Versammlungsfreiheit als Basis demokratischer Prozesse

Versammlungsfreiheit ist die Basis aller demokratischen Gesellschaften. In meiner Jugend wurden regelmäßig Demonstrationen angeordnet und waren unfrei. Wir Ostdeutschen wurden auf eigenen, freien Demonstrationen der Opposition bespitzelt, niedergeknüppelt, verhaftet und vernichtet.

© Lea Diedenhofen | Berlin, 29.08.2020

„In politischen Diskussionen tritt Karoline konsequent auf und fordert auch andere zum Meinungsstreit heraus.“ schrieb meine Klassenlehrerin im Juli 1985. Im Mai 1985 hatte die Staatssicherheit begonnen, meine Kontaktpersonen, meinen Brief- und Postverkehr und mich zu überwachen. Da war ich 13 Jahre alt und eine Liberale. Liberalismus war in der DDR verpönt. Natürlich war ich nicht die einzige, die so etwas erlebte. Es ging sogar schlimmer. Arno Esch, ein junger Jurastudent aus Rostock, wurde 1951 hingerichtet, weil er u.a. für Gewaltenteilung, die Einrichtung eines Verfassungsgerichts und Versammlungsfreiheit eintrat. Wie Esch bin ich Juristin und FDP-Politikerin. Ich liebe die Freiheit und kenne die Unfreiheit noch.

Auch deshalb besuchte ich am 29.08.2020 in Berlin die Demonstration gegen die geltenden Coronamaßnahmen. Mir war wichtig, zuzuhören und zu antworten. Ich hatte Covid 19.

Versammlungsfreiheit ist die Basis aller demokratischen Gesellschaften. In meiner Jugend wurden regelmäßig Demonstrationen angeordnet und waren unfrei. Wir Ostdeutschen wurden auf eigenen, freien Demonstrationen der Opposition bespitzelt, niedergeknüppelt, verhaftet und vernichtet. Als Jugendliche trug ich meine Zahnbürste an einer Paketschnur um den Hals, um bei einer spontanen Verhaftung oder Verschleppung nicht auf Mundhygiene verzichten zu müssen. Viele taten das. Viele brauchten ihre Zahnbürste dann auch.

Deshalb ist Versammlungsfreiheit so wichtig. Ebenso wichtig ist mir, unbeugsam zu sein, wenn Menschen unsere Demokratie stürzen wollen.

Wir müssen deshalb im Gespräch mit Demokratiemüden bleiben. Ich möchte Coronakritiker und andere politikmüde Personengruppen nicht kampflos gewaltbereiten Extremisten überlassen. Ich war bei der Demonstration am 29.08.2020 genau am richtigen Platz für eine Diskussion. Liberale müssen auf Menschen zugehen, denen demokratische Prozesse egal, unbekannt oder zu langsam sind. Niemand hat das Recht, sich über unsere freiheitliche demokratische Grundordnung hinwegzusetzen, weil er sich subjektiv im Besitz einer höheren Wahrheit wähnt. Daher sind wir in der Pflicht, der Freiheit zu dienen und zu widersprechen.

Wir haben in der Vergangenheit Abkürzungen genommen. Es gab Veranstaltungen, Demonstrationen und Gegendemonstrationen, die durch übertriebene Zuspitzung die Gegenseite stark diffamierten. So ersparte man sich die Arbeit, alle Vorträge nachzuvollziehen oder einzuordnen. Also wählte ich das Gesprächsangebot in dieser Demonstration. Wir wissen doch, dass Wertschätzung zwei Dimensionen hat. Zum einen auf den Menschen bezogen, zum andern auf seinen Standpunkt bezogen. Ich mag Menschen und über die meisten Standpunkte kann man sich austauschen. Die Situation in Deutschland wird ja nicht dadurch besser, dass man andere herabsetzt und sich selbst erhöht. Ich will erreichen, nach Debatten eine integrale Lösung zu finden. Gelingt uns das, dann leben wir Demokratie in bester Weise. 

Hannah Arendt sagte „Der ideale Untertan totalitärer Herrschaft ist nicht der überzeugte Nazi oder engagierte Kommunist, sondern Menschen, für die der Unterschied zwischen Fakten und Fiktion, wahr und falsch, nicht länger existiert.” Der Unterschied zwischen Fakten und Fiktion war bei den Menschen, die ich dort traf, oft verschwommen. Das betrifft Q-Anon und Michael Ballweg (Anm. d. Red.: Gründer “Querdenken-711”) , Attila Hildmann sowie andere Aktivistinnen und Aktivisten. Politische Entscheidungen rund um Covid 19 werden von dieser Bewegung auf eigene Weise interpretiert. Die Prepper, die Reichsbürgerszene, das Umstürzlerische und Coronakritiker sind Weggefährten. Die politischen Positionen gleichen denen der Identitären Bewegung, der AfD, der Rechten. Die Sprache ist dieselbe. „Merkel muss weg“, „Kriegsgericht“, „Sturz der globalen Elite“ sind Forderungen in Buchstabenform und zugleich Gewaltandrohung. Keiner kann sagen, er habe es nicht gewusst. Immerhin wurde zum „Sturm auf Berlin“ aufgerufen. Es geht längst nicht mehr darum, ob der Coronagegenbewegung Aktionen des rechten Milieus zugerechnet werden. Sie ist nach meiner Einschätzung Teil dieser breit aufgestellten antidemokratischen Bewegung.

Auf der Demonstration am Samstag in Berlin standen sich zwei Gruppen mit unterschiedlichen Kulturen gegenüber. Ich vertrat vor Ort die sachorientierten Menschen. Für uns sind Zahlen, Daten und Fakten bei der Bildung, Meinung und Entscheidungsfindung relevant. Ich traf auf der anderen Seite die beziehungsorientierten Menschen, für die sich Dinge richtig anfühlen müssen. Sie bilden ihre Meinung bzw. treffen eine Entscheidung anders. Es geht um Gefühle. Ich finde diese Erkenntnis wichtig. Haben beziehungsorientierte Menschen Vertrauen bzw. eine Beziehung zu einer Person wie zum Beispiel Hildmann, reicht das aus. Zahlen, Daten, Fakten spielen keine Rolle mehr. Zusammenhänge werden nicht hinterfragt. Ich traf in sich verlorene Gegner der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Zeigen wir Lösungen auf und bedenken wir dabei, dass wir Fakten für die vernunftgesteuerten Menschen ebenso brauchen wie Identifikationspersonen zum Vertrauensaufbau bei den Enttäuschten.

Der Politikwissenschaftler Klaus von Beyme benennt als Ausgangspunkt der liberalen Ideologie ein Menschenbild, das vom Guten der menschlichen Natur ausgeht und durch Vernunft geprägt ist. Verantwortungsethik könnte die Anforderung an die Verhältnismäßigkeit einzelner Coronamaßnahmen gut beschreiben. Doch „Alle Gerechtigkeit beginnt mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit.“ schreibt Martin Kriele. Von der Wahrnehmung der Wirklichkeit waren erschreckend viele meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner auf der Demonstration am 29.08.2020 in Berlin entfernt. Hier ist es eine Aufgabe liberaler Politik, sich einzubringen. Wir brauchen Lehre, Wissenschaft, Forschung und Investitionen sowie eine Abkehr von Wissenschaftsfeindlichkeit und Homöopathieleichtsinn. Wir haben Vertrauen verspielt und damit Menschenfängern Tor und Tür geöffnet. Ich habe gerade eine Erkrankung mit Covid 19 überstanden, weil ich auf eines der besten Gesundheitssysteme der Welt bauen konnte. Wir sollten wieder führend werden, wenn es um Medizintechnik und internationale Forschungsprojekte geht. Wir müssen das Vertrauen vieler Menschen zurückgewinnen.

Gesellschaftliche Probleme löst man nicht ohne Dialog. Beginnen wir also endlich, den Menschen auf der Straße und bei Demonstrationen Rede und Antwort zu stehen. Das Engagement in einer Partei oder anderen politischen Vereinigung gibt Rückhalt. Allein startet man vielleicht schneller, aber ins Ziel kommen wir alle nur gemeinsam.

Für diesen Weg braucht man einen langen Atem. Jede vermiedene Covid-19-Infektion schenkt uns Luft.

  • © Lea Diedenhofen | Berlin den 29.8.2020

Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung der Gastautorin wider.


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