Zwei Leben für die Freiheit

In der Ironie der Geschichte waren es gerade die Menschen, deren Freiheit im letzten Jahrhundert am stärksten bedroht war, die den Weg für ein liberaleres Jahrhundert ebnen sollten.

1987, zwei Jahre vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, veröffentlichen polnische Dissidenten ein kleines Büchlein mit dem Titel Trójetos o wolnosci – „Drei Stimmen für die Freiheit“. Eine 107-seitige Übersetzung dreier Abhandlungen über die Freiheit, von drei den bekanntesten politischen Denkern des 20. Jahrhunderts: Raymond Aron, Isaiah Berlin und Hannah Arendt. Am Ende des letzten Jahrhunderts, das den Höhepunkt seiner kaum fassbaren Brutalität in der antisemitischen Zerstörungskraft der Shoah erreichte, sollte das Denken drei jüdischer Intellektueller das Fundament für eine neue polnische Zivilgesellschaft legen. Dabei stehen Aron, Berlin und Arendt exemplarisch in einer Reihe von jüdischen Denkern, die ihr intellektuelles Streben der Freiheit und dem Kampf gegen den Autoritarismus widmeten. In der Ironie der Geschichte waren es gerade die Menschen, deren Freiheit im letzten Jahrhundert am stärksten bedroht war, die den Weg für ein liberaleres Jahrhundert ebnen sollten.

Kei Hiruta hat ein Buch geschrieben. Ein Buch über zwei dieser Persönlichkeiten; ihre Lebenswege und Ideen. Über Hannah Arendt, die viel zu oft “nur” als Liberale gesehen wird, obwohl sie so viel mehr ist. Und über Isaiah Berlin, der in der Regel höchstens und immer seltener von Liberalen gelesen wird, obwohl er so viel mehr sein könnte.  Ein Buch über eine Beziehung, die aufgrund ähnlicher Voraussetzungen eine gute hätte sein können, es aber aufgrund anderer Gegebenheiten nie wurde. Und obwohl eine Schrift über Berlin und Arendt eigentlich naheliegt, so vermag die Kombination aus beiden doch zu überraschen. Wer heute ein Buch über Hannah Arendt kauft, wird den Namen Berlin vielleicht mit der deutschen Hauptstadt verbinden, selten aber mit einem der wichtigsten liberalen Intellektuellen. Geht es nach der öffentlichen Meinung, könnten die Unterschiede kaum gravierender sein.

Auf der einen Seite Hannah Arendt, deren Philosophie-Popikonen-Status kaum eine Grenze zu kennen scheint. T-Shirts, Sticker, Plakate – nicht nur ihre Bücher sind heute gefragte Ware. Über Hannah Arendt “philosophieren” zu können, das ist in manchen Blasen fast schon eine soziale Norm und im bildungsbürgerlichen Smalltalk kaum zu vermeiden. Eichmann-Prozess hier, Vita Activa dort – über Arendt zu reden, schreiben oder schwafeln verspricht Erfolg – egal ob in Podcasts, Fernsehen oder neuen Büchern. Und für die Redenschreiber so mancher Partei scheint das fleißige, kontextlose Zitieren schon fast Pflicht zu sein.

Nur Simone de Beauvoir mag heutzutage einen ähnlichen Kultstatus besitzen. Beide werden gemeinhin mit weiblicher Emanzipation assoziiert, weil beide in den Männerdomänen Philosophie und Literatur zu eigenen Stars heranwuchsen und mittlerweile ihre Lebensgefährten an Prominenz überragen. Beauvoirs le deuxième sexe ist heute vielerorts bekannter als Sartres la nausée, während jedes Buch Arendts verkaufsstärker ist als Martin Heideggers Opus magnum Sein und Zeit. Arendts Affäre mit dem Eklat-Philosophen aus dem Schwarzwald und de Beauvoirs mehr als nur offene Beziehung mit dem französischen Star-Existentialisten haben zu ihrer Bekanntheit beigetragen. Ihre Bücher werden heute aber wegen ihnen und ihrer originellen Ideen und nicht den im Hintergrund mitspielenden Männern gelesen.

Und im Kontrast dazu Isaiah Berlin, der vermutlich weder wilde Affären mit Männern oder Frauen hatte noch heutzutage an vorderster Front in den Büchereien dieser Welt präsentiert wird. Isaiah Berlin, dessen bekannteste Theorie der “zwei Freiheiten” vielleicht noch im Politik-Pro-Seminar gelesen wird, aber daneben höchstens in Twitter-Fachdiskussionen über Freiheit – welche eigentlich? – Gehör findet. Ein Intellektueller, der einen Großteil seines Lebens als gewöhnlicher Philister in Oxford verbrachte, ohne dabei die Kontroverse mit anderen Gelehrten zu scheuen. Ein Philosoph, der ohne seinen Schüler und Herausgeber Henry Hardy den Großteil seiner größtenteils famosen Texte nie veröffentlicht hätte. Ein Ideengeschichtler, der von Vico, über Herder, Herzen, de Maistre oder Marx fast jeden wichtigen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts in kurzen oder weniger kurzen Essays behandelte. Ein Liberaler, der unter Liberalen ein Schwergewicht war, darüber hinaus aber die ihm zustehende Bekanntheit nie erlangte.

Hirutas Entschluss, ein Buch über beide zu schreiben, ist allein schon wegen des Vergleichsobjektes der gemeinsamen Interessengebiete lohnend. Freiheit, Demokratie, Pluralismus oder Totalitarismus; dass Arendt und Berlin über ähnliche Dinge ähnlich oder ganz anders nachdachten, muss nicht überraschen. Als Kinder ihrer Zeit, als Intellektuelle mit jüdischen Wurzeln, wurden sie von dem antisemitischen Verfolgungsdrang totalitärer Regime geformt und in ihrem Denken geprägt. Dabei stehen sie exemplarisch in einer Reihe mit einer Vielzahl von jüdischen emigré Intellektuellen, die als Philosophen, Lyriker oder Schriftsteller die persönlichen Erfahrungen in unterschiedlicher Hinsicht verarbeiteten und sich auf die Suche nach den Wurzeln des Totalitarismus begaben.

Arendt, geboren 1906 in Hannover und aufgewachsen in Königsberg als Kind von assimilierten und säkularisierten Juden. Als Kind von Parvenüs, wie Hannah Arendt die nach Assimilierung strebenden Juden später einmal in Anlehnung an Rahel Varnhagen bezeichnen sollte. Ein Kind, das sich nur vage seiner Herkunft bewusst war, aber mit einem umso größeren Bildungshunger ausgestattet war. Ihr erster Kant wurde mit 14 gelesen, ihre romantische Affäre mit dem Gipfelstürmer-Philosophen Martin Heidegger begann einige Jahre später, und mit 23 hatte sie unter Karl Jaspers ihre Dissertation zum Liebesbegriff bei Augustinus beendet. Ein kurzes Hoch, bevor sie durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten auf ihre jüdische Identität zurückgeworfen wurde, flüchten und sich als Emigrantin behaupten musste, erst in Frankeich, dann in den USA.

Flucht; auch für Berlin keine unbekannte Erfahrung. Ein Sohn reicher russisch-sprachiger Juden, der 1909 in Riga geboren wurde und dessen Familie 1914 aufgrund von Antisemitismus nach Russland flüchtete. Auf die erste Flucht folgte nach der Oktoberrevolution die zweite, Berlins Familie sah sich dazu gezwungen, nach Großbritannien zu emigrieren. Von dort aus begann eine steile akademische Karriere, die durch die Veröffentlichung seiner Monografie über Karl Marx einen zwischenzeitlichen Höhepunkt fand und “nur” durch den Zweiten Weltkrieg ins Stocken geriet. Zwar verhinderte eine Schwäche im linken Arm seinen direkten Einzug ins Militär, aber nicht sein Wirken als Diplomat für die britische Regierung im Umgang mit den USA.

Wie viele Emigranten litten beide, Isaiah Berlin und Hannah Arendt, unter Identitätsproblemen. Rückblickend auf seine Zeit als kleines Kind in Riga erklärte Berlin, dass sie weder als Letten noch als Russen gesehen wurden, in erster Linie waren sie Juden in den Augen der Meisten. Auch Arendt, die säkular aufwuchs, musste feststellen, wie die reine Reduktion auf ihre jüdischen Wurzeln durch das Erstarken des Nationalsozialismus vorangetrieben wurde.

Kein Wunder also, dass sich ein unterschiedliches Verständnis des Judentums als erster Konfliktfall entpuppte. Nur zwei Mal trafen sich Arendt und Berlin in ihrem Leben, 1941 und 1949 – und beide Male stritten Sie über Zionismus. Berlin, der stets einen liberalen Zionismus im Sinne Herders vertrat und Arendt, die zunächst 1941 einen, wie Berlin es nannte “fanatischen jüdischen Nationalismus” propagierte und Berlin für sein fehlendes Engagement für die zionistische Sache angriff. Nur um dann 1949 bei ihrem zweiten Treffen au contraire das israelische Nationalstaatsprojekt stark zu kritisieren. Ein fundamentaler Haltungswechsel, der Berlins Einstellung gegenüber Arendt nachhaltig prägen sollte.

Identität, Freiheit, Pluralismus oder Autoritarismus – von Thema zu Thema hangelt sich Hiruta, um der gegenseitigen Ablehnung auf die Spur zu kommen. Dabei wird schnell deutlich, dass diese mehr ein- und weniger gegenseitig ist – und dezidiert von Berlin ausgeht. Immer und immer wieder betonte Berlin, wie wenig er von Arendt hielt. Sie sei sein Real Bête Noire und überhaupt gebe es “in ihren Werken nichts von geringstem Wert oder Interesse”.

Auch hier steht Berlin in einer Reihe mit einer Vielzahl von prominenten jüdischen Intellektuellen, die sich in ihrer Ablehnung von Arendt nicht zurückhielten. In einer Reihe mit Golo Mann, Gershom Scholem, Max Horkheimer oder Theodor W. Adornos, der Arendt einst in einem Brief an Scholem als ein “altes Waschweib” bezeichnete. Eine in ihrer Radikalität kaum fassbare Haltung, die sich aber nicht durch banale Psychologisierungen erklären lässt – aber woran dann? Anstatt die berlinsche Ablehnung singulär auf Neid oder Sexismus zurückzuführen, gelingt es Hiruta, die Beziehung anhand einer Mehrzahl von Konfliktlinien zu charakterisieren.

Dass die fundamentalste Frage des 20. Jahrhunderts, die Frage der Freiheit, dabei eine zentrale Rolle spielt, muss nicht überraschen. Arendts Leitspruch, dass Freiheit die “raison d’être der Politik” sei, hätte auch Berlin zugestimmt, um gleichzeitig darunter etwas gänzlich anderes zu verstehen. Während Arendt die Freiheit auf den griechischen Marktplatz zu ergründen versuchte, vertrat Berlin ein modern-angelsächsisches Verständnis des Begriffs. So manifestiert sich bei Arendt die Freiheit im Aktiven, im Zustand des “Manifestseins des Handelns”, in der bewussten Ausübung der eigenen Möglichkeiten der politischen Partizipation. Dies wird dabei nur den Bürgern einer Gemeinschaft in einem Raum des “Dazwischens” ermöglicht, im dem die Mitglieder gemeinsam eine öffentliche Freiheit schaffen und so zu ebenbürtigen Staatsbürgern werden.

Im Kontrast zur arendtschen Hellas-Verehrung, steht Berlins analytische Unterscheidung in positive und negative Freiheit. “Frei zu sein”, so Berlin, “meint eine ungezwungene Wahl zu treffen, die konkurrierende Möglichkeiten mit sich bringt.” Ohne den Wert der positiven Freiheit zu negieren, entwickelt Berlin sein Konzept der negativen Freiheit als Eröffnung von Möglichkeiten. Als Möglichkeit, durch eine Vielzahl von verschiedenen Türen steigen zu können. Nicht nur für Hiruta zeigt sich hier, dass Berlins negative Freiheit weitaus weniger negativ ist, als von manch Kritikern behauptet, sondern vielmehr die Grundlage für Isaiah Berlins Bild des Menschen als Möglichkeitswesen liefert. Ein Wesen, das sein “eigenes Glück in seiner eigenen Art und Weise” verfolgt und damit im Gegensatz zu Arendts kommunitaristischen Citoyen der Politeia steht. Wie Hiruta herausarbeitet, liegt dem unterschiedlichen Freiheitsverständnis ein unterschiedliches Menschenverständnis zu Grunde, das sich bei Arendt als animal politicum und bei Berlin als Möglichkeitswesen ausdrückt.

Neben der Freiheit ist es die Erfahrung des Totalitarismus, die die beiden Emigrés zu ergründen versuchen. Für Arendt zeitigte sich im umgreifenden Totalitarismus des 20. Jahrhunderts ein gänzlich neues Phänomen, ein unvergleichbares Phänomen sui generis, das auf den entfremdeten und atomisierten Massen der Moderne aufbaut. In dem Streben nach totaler Kontrolle, die sich in den deutschen Vernichtungslagern manifestierte, gehe der Totalitarismus weit über bisher bekannte Phänomene wie Autoritarismus oder Tyrannei hinaus. Die Antriebskraft der Regime ist dabei der Glaube an ein höheres Gesetz, das sich im Falle der Nationalsozialisten als Rassenlehre und im Falle der Sowjetunion als Geschichtsdeterminismus ausdrücke.

Während bei Arendt der Totalitarismus der entfesselten Moderne entspringt, ist es bei Berlin ein Symptom der letzten Stufe des totalitären Geistes und Verabsolutierung der positiven Freiheit. Ähnlich wie für Karl Popper erwächst Totalitarismus dabei einer Kontinuität, die ihre Ursprünge bei den utopischen Idealen Rousseaus und Hegels findet. “Philosophische Konzepte, die in der Stille des Studiums eines Professors entwickelt werden, können eine Zivilisation zerstören”, wie Berlin in Anlehnung an Heinrich Heine schreibt. So erwuchs bei Heine Robespierre zur “reinen Hand von Rousseau”, während bei Berlin Hegel, Fichte und Nietzsche zu Vordenkern der nationalsozialistischen Ideologie heranwachsen.

Auch wenn Arendt und Berlin Totalitarismus aus unterschiedlichen Blickpunkten betrachteten, identifizieren beide das Verfolgen höherer Ziele als konstituierendes Element. Nicht ohne Grund identifizierte Berlin Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft als das “wenigste schlechte” aller ihrer Bücher. Eine fast schon als Lob zu verstehende Aussage des britischen Liberalen, die gleichzeitig aber nicht mehr als eine Ausnahme zu sein scheint.

Die Eichmann-Kontroverse markierte einen weiteren negativen Wendepunkt in Berlins Haltung zu Arendt. Dabei war es nicht die Einschätzung Eichmanns als Schreibtischtäter, die Berlin verärgerte, sondern ihre Täter-Opfer-Umkehr im Falle von Millionen toter Juden. Arendts These, dass ohne die lokale Hilfe von jüdischen Anführern Eichmann niemals Millionen hätte umbringen können, wurde nicht ohne Grund als Affront in breiten Teilen der jüdischen Gemeinschaft aufgefasst. Gerhard Scholem unterstellte Arendt eine “fehlende Liebe zum jüdischen Volk”. Judith Shklar hinterfragte, warum Arendt von den osteuropäischen Juden “homerische Heldentaten” erwartete, obwohl sie wusste, dass es nichts an ihrem Schicksal geändert hätte. Und Berlin unterstellte Arendt schließlich die “schrecklichstmögliche Arroganz”.

Die hier vorsichtig gezeichneten Konfliktlinien sind nur ein erster Ansatz, denen Keir Hiruta in einer umfassenden Tiefe nachgeht und um weitere Neben-Streitigkeiten ergänzt. Dabei gelingt es ihm, das intellektuelle Erbe beider in den Vordergrund zu stellen, um es gleichzeitig miteinander zu kontrastieren. Eine äußerst produktive Herangehensweise, die die Schwachstellen beider Philosophien offenbart, ohne sich dabei auf eine Seite zu schlagen. Hiruta schafft das, wozu Isaiah Berlin womöglich nie fähig war: ihn und Hannah Arendt als zwei der wichtigsten Intellektuellen der Freiheit zu begreifen. 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bleibt ihr Denken eine zentrale Säule liberaler und offener Gesellschaften.

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