Die Leiden des deutschen Gesundheitswesens: ein Fallbericht. Und ein Therapievorschlag.

Die COVID-19-Pandemie zeigt die Defizite des deutschen Gesundheitssystems schonungslos auf. Doch weder sind diese neu, noch durch die Pandemie verursacht. Unser Gastautor mit Vorschlägen für bessere Gesundheitsversorgung durch marktwirtschaftliche Reformen.

1. Die Anamnese (Krankengeschichte)

Kommt ein Patient zum Arzt. Die erste Herausforderung, vor der Letzterer steht, liegt in der Diagnose. Ein normaler Herzinfarkt beispielsweise führt, je nach Geschlecht, Alter und Vorerkrankung des Betroffenen, zu sehr unterschiedlichen Beschwerden. Brust-, Bauch- und Schulterschmerzen, Atemnot, Übelkeit, Erbrechen, Husten oder Schwindel: all dies kann gleichermaßen Ausdruck ein und derselben Ursache sein. Genauso gut treffen die Symptome aber auch auf eine Lebensmittelvergiftung, eine Lungenembolie oder eine Somatisierungsstörung zu. Um eine adäquate Therapie einleiten zu können, muss jedoch die Grunderkrankung gesichert festgestellt werden. Oftmals keine einfache Aufgabe für die Verantwortlichen.

Kommt das deutsche Gesundheitssystem zum Arzt. Die Beschwerden:

  • unterbezahlte und überarbeitete Pflegekräfte
  • Personalmangel, vor allem im ländlichen Raum1
  • überfüllte Notaufnahmen
  • zu lange Wartezeiten in der ambulanten ärztlichen Versorgung
  • Mangelhafte Behandlungsqualität, was sich u.a. in einer erschreckend hohen Sterblichkeit in deutschen Kliniken aufgrund von Behandlungsfehlern zeigt2
  • Steigende Kosten in weniger regulierten Branchen, insbesondere der Pharmazie

Was steckt dahinter?

2. Die Diagnose

„Das Wirtschaftlichkeitsgebot“, sagen viele Stimmen. Ökonomische Erwägungen dürften nicht im Vordergrund stehen, wenn es um Leben und Gesundheit von Menschen geht. Gefordert werden dann in der Regel mehr Regulierungen, höhere Löhne fürs Fachpersonal, niedrigere Preise für medizinische Leistungen und gleichzeitig mehr Einrichtungen. Für viele darf das Gesundheitssystem erst überhaupt kein Markt sein.

Dabei unterliegt schon heute kaum eine Branche in Deutschland derart vielen Reglementierungen wie das Gesundheitswesen. Ein überkomplexer Preisbildungsmechanismus – das DRG-System (Diagnosis Related Groups) – deckelt mittels aufwändig berechneter Pauschalvergütungen die Kosten für stationäre Therapien. Durch gesetzlich vorgesehene und staatlich geleitete Planungskonferenzen zwischen den Landesregierungen, Vertretern der Krankenkassen und den Krankenhausbetreibern beziehungsweise Ärztekammern soll die flächendeckende medizinische Versorgung der Gesamtbevölkerung gewährleistet werden. Gesetzliche Versicherungen treten als Mittler zwischen die ahnungslosen Nachfrager und die Anbieter, um das natürliche Informationsungleichgewicht zwischen Arzt und Patient auszuwiegen und feste – erneut: gedeckelte – Tarifpreise auszuhandeln. Und nicht zuletzt sollen umfangreiche Dokumentationspflichten Behandlungsfehler vermeiden und Abrechnungen transparent machen.

Wenn eine intensive Therapie die Symptome nicht lindert oder lediglich verlagert, ist aller Wahrscheinlichkeit nach die Diagnose falsch. Dabei verstellt gerade die Abkehr von der marktwirtschaftlichen Betrachtung den Blick erheblich. Durch die geschilderten Probleme zieht sich nämlich ein rein wirtschaftlicher roter Faden: es scheint, dass auf zu wenig medizinisches Angebot zu viel Nachfrage prallt. Wäre das Gesundheitswesen ein freier Markt, würde dies ganz natürlich zu einem Anstieg der Preise führen. Genau das ist in den USA zu beobachten. Dort ist die allgemeine Behandlungsqualität höher als hierzulande, die Pflegekräfte werden erheblich besser vergütet und die Versorgung ist insgesamt flächendeckender.3 Gleichzeitig sind die Gesundheitskosten um ein Vielfaches höher. 10.586 Dollar wurden im Jahr 2018 pro Kopf für Gesundheitsleistungen ausgegeben, im Vergleich 5.986 Dollar in Deutschland.4 Die USA haben damit das teuerste Gesundheitssystem der Welt. Und das belastet nicht nur die Staatskasse: rund 60 % der Privatinsolvenzen im Jahr 2018 waren auf zu hohe Behandlungskosten zurückzuführen,5 schließlich waren im selben Jahr über 8%, also 27,5 Millionen US-Bürger, gänzlich versicherungslos.6

Dies kann in der Bundesrepublik durch die geschilderten Maßnahmen abgewendet werden – wenngleich auch Deutschland im OECD-Vergleich überdurchschnittlich hohe Gesundheitsausgaben tätigt. Doch was passiert, wenn die Signal- und Verteilungswirkung der freien Preisbildung ausgehebelt wird? Das hängt ganz von der Nachfrage ab. Bleibt diese hoch, kommt es zu Versorgungsengpässen. Und tatsächlich: In keinem Land der Welt nehmen Menschen so häufig medizinische Leistungen in Anspruch wie in Deutschland. Rund siebzehnmal suchte ein hiesiger Bürger im Jahr 2016 durchschnittlich einen Arzt auf.7 Die Folgen verwundern also ganz und gar nicht. Personalmangel, überlange Wartezeiten und überfüllte Notaufnahmen sind Ausdruck begrenzter Kapazitäten, denen zu viel Bedarf gegenübersteht. Behandlungsfehler entstehen dort, wo Ärzte und Pflegekräfte schlicht überfordert sind. Dazu tragen freilich auch all die aufwändigen Formalitäten bei, welche sowohl der Pauschalpreisberechnung als auch der Abwehr drohender haftungsrechtlicher Ansprüche dienen. Gleichzeitig wird angesichts der fehlenden Mittel da gespart, wo gespart werden kann: Zum Beispiel bei der Vergütung des Pflegepersonals.

Was also tun, wenn man all diese Probleme in den Griff bekommen will, zugleich aber eine systemweite Inflation wie in den USA vermeiden möchte?

3. Der Therapievorschlag

Weniger Marktwirtschaftlichkeit kann jedenfalls keine Antwort sein. Wir müssen anerkennen, dass Ressourcen in der medizinischen Versorgung genauso begrenzt sind wie in jedem anderen Markt. Zugang für alle, ohne Erschöpfung oder Engpässe, ist nur zu erreichen, wenn die zur Verfügung stehenden Mittel so effizient wie nur möglich ausgebaut und den faktischen Bedürfnissen der Patienten angepasst werden. Diese Herausforderung wird umso dringlicher, je älter unsere Gesellschaft wird.8

Paul Dießelberg und ich haben im Rahmen eines Research Projekts beim studentischen Think Tank Epis eine Reihe von Reformvorschlägen konzipiert, mit denen wir uns genau dieser Aufgabe stellen wollen. Ziel ist einerseits eine Erweiterung des medizinisch-therapeutischen Leistungsangebots, andererseits die optimierte Allokation vorhandener Ressourcen anhand von tatsächlichen Bedürfnissen auf Patientenseite. Dabei sollen Kostenexplosionen vermieden und Arbeitsbedingungen von Pflegekräften und Ärztinnen und Ärzten verbessert werden. Im Einzelnen beutetet dies:9

1. Die Herabsetzung medizinischer Berufsausübungs- und Gewerbegründungshürden:

Durch gezielte Schaffung von mehr medizinischen Ausbildungsplätzen, der rechtlichen Erleichterung von Praxisgründungen und Anreizsetzungen für mehr Versorgungseinrichtungen in unterversorgten Regionen können mehr Angebote geschaffen und somit zusätzlich im Zuge des Preiswettbewerbs Gesundheitskosten gesenkt werden. Insbesondere sprechen wir uns für eine Abschaffung der Bedarfsplanung und des Vertragsarztmodells aus und fordern, alle approbierten Ärztinnen und Ärzte verfahrensfrei in die kassenärztliche Versorgung mit einzubinden. Ganz im Gegenteil sollten vielmehr auch seitens der Kassenärztlichen Vereinigungen gezielt Anreize für Stellen in unterversorgten Regionen geschaffen werden, beispielsweise durch Prämien, haftungsrechtliche Erleichterungen und Sonderleistungen wie vergünstigte Fortbildungen.

2. Die Optimierung des DRG-Klassifikationssystems:

Das Pauschalvergütungssystem soll sich nur noch an den tatsächlich erforderlichen Prozessen ausrichten und hierfür neben einem fixen Orientierungspreis hinreichend Flexibilität für weitere Leistungsunterschiede (z.B. in der Pflege oder neue Verfahren) lassen. Die Berechnung der Orientierungspreise soll dabei vereinheitlicht digitalisiert erfolgen, um wertvolle Arbeitszeit der Behandelnden für therapeutische Betätigungen zu sparen. So werden die tatsächlichen Therapieerfordernisse in der Preisbildung besser repräsentiert und eine effizientere Budgetaufteilung erleichtert.

3. Die Lockerung des Arzthaftungsrechts und der Dokumentationspflichten:

Durch erhöhtes Vertrauen in das medizinische Fachpersonal können weitere Arbeitszeit gewonnen und erhebliche Verwaltungskosten eingespart werden. Zudem werden die Arbeitsbedingungen erheblich verbessert. Hierfür sind neben der erwähnten Vereinfachung des Abrechnungssystems eine Aufweichung der Dokumentationspflichten sowie des Arzthaftungsrechts vorgesehen.

4. Eine Umgestaltung der Krankenhausplanung:

Die verbindliche und gesetzlich vorbestimmte Objektplanung der Länder zur Krankenhausversorgung soll durch eine flexibel gehaltene Bedarfsplanung ersetzt werden, die eine schnellere Kommunikation zwischen den betroffenen Stellen ermöglicht und eine adäquatere und effizientere Versorgung vor Ort gewährleistet.

5. Die Förderung der Pflegeberufe:

Pflegekräfte verdienen nicht nur fairere Gehälter, sondern auch mehr Anerkennung. Daher soll durch die Akademisierung der Ausbildung das Ansehen des Berufsbilds gesteigert werden. Zudem sind ein branchenspezifischer Mindestlohn und eine Staffelung der Löhne wünschenswert. Das steigert auch und vor allem die Behandlungsqualität für Patienten.

6. Eine Umstrukturierung des Versicherungsmarktes:

Um mittels Preiswettbewerbs auf Intermediärsebene die gesundheitlichen Gesamtausgaben weiter zu senken und die Transparenz der Versicherungsangebote zu erhöhen, sollen einerseits komplexe Beitragssysteme, die mit hoher Informationsverschleierung für Verbraucher und Preisverzerrungen einhergehen, entflochten, andererseits Marktzutrittsschranken für potentielle und ausländische Anbieter herabgesetzt werden. Zudem wollen wir mittels eines gestaffelten Beitragssystems Kostenunterschiede auch für Patienten “spürbar“ machen, ohne erhebliche finanzielle Belastungen zu provozieren. Ein solches System würde sich an in der Vergangenheit in Anspruch genommenen Dienstleistungen orientieren.

Wir glauben, durch dieses übergreifende Flexibilisierungs- und Liberalisierungsprogramm das deutsche Gesundheitswesen nicht nur leistungsfähiger, dynamischer und innovativer, sondern vor allem zukunftsfähiger machen zu können. Bereits weit vor der Corona-Pandemie kränkelte das System. Unsere Prognose: Ohne entsprechende therapeutische Maßnahmen ist mit einer Besserung nicht zu rechnen.


Das vollständige Policy Paper könnt ihr hier einsehen. Epis ist ein unabhängiger Think Tank, dessen Ziel es ist, zukunftsweisende und neu gedachte Impulse für politische und gesellschaftliche Herausforderungen zu entwickeln. Weitere Informationen: epis-thinktank.de/.


Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung des Gastautors wider.


Gastautor
  1. Vgl. ‘Es ist höchste Zeit, den Ärztemangel ernsthaft zu bekämpfen’ (2019), Landesärztekammer Baden-Württemberg, abrufbar unter: https://www.aerztekammer-bw.de/news/2019/2019-03/arztzahlstatistik/index.html (zuletzt aufgerufen am 22.11.2021).[]
  2. Vgl Le Ker, Heike: ‚Mehr Tote durch Behandlungsfehler als im Straßenverkehr‘ (2014), abrufbar unter: https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/aok-krankenhaus-report-2014-19-000-tote-durch-behandlungsfehler-a-944615.html (zuletzt aufgerufen am 22.11.2021).[]
  3. Vgl. Blumberg, Yoni: ‚Here’s the real reason health care costs so much more in the US‘ (2018), abrufbar unter: https://www.cnbc.com/2018/03/22/the-real-reason-medical-care-costs-so-much-more-in-the-us.html (zuletzt aufgerufen am 15.11.2021).[]
  4. Vgl. Jährliche Gesundheitsausgaben pro Kopf in ausgewählten OECD-Ländern im Jahr 2018 in USD, nach statista.de: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/37176/umfrage/gesundheitsausgaben-pro-kopf/ (zuletzt aufgerufen am 22.11.2021).[]
  5. Vgl. Sainato, Michael: ‚’I live on the street now’: how Americans fall into medical bankruptcy‘ (2019), abrufbar unter: https://www.theguardian.com/us-news/2019/nov/14/health-insurance-medical-bankruptcy-debt (zuletzt aufgerufen am 22.11.2021).[]
  6. Vgl. Lanz, Martin: ‚In den USA stehen wieder mehr ohne Krankenversicherung da’ (2019), abrufbar unter: https://www.nzz.ch/wirtschaft/krankenversicherung-usa-275-mio-2018-unversichert-ld.1508049 (zuletzt aufgerufen am 22.11.2021).[]
  7. Vgl. ‘Die Deutschen gehen zu oft zum Arzt’ (2016) auf daz.de, abrufbar unter: https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2016/03/27/die-deutschen-gehen-zu-oft-zum-arzt (zuletzt aufgerufen am 22.11.2021).[]
  8. Vgl. Rohwer, Anja: ‚Bismarck versus Beveridge: Ein Vergleich von Sozialversicherungssystemen in Europa‘ (2008), abrufbar unter: https://www.ifo.de/DocDL/ifosd_2008_21_3.pdf (zuletzt aufgerufen am 22.11.2021).[]
  9. Ausführlich Stark, Fabio / Dießelberg, Paul: ‚Zur Genesung des Gesundheitssystems: Ein Reformkonzept‘ (2021), abrufbar unter: https://bit.ly/3l5fVxv (zuletzt aufgerufen am 22.11.2021).[]

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