Jeder Schritt zu viel, jede Begegnung und jeder Atemzug im Beisein anderer ist eine potenzielle Gefahr. Es ist nicht verwunderlich, dass während einer globalen Pandemie, die eine permanente, bedrückende Drohkulisse bildet, der Bedarf an psychotherapeutischer Behandlung zu nimmt. Das vorläufige Gegenmittel: Isolation – Gift für ein soziales Wesen wie den Menschen.
Dementsprechend verschlimmert sich ein Umstand, der bereits chronisch beklagt wird: Ein grundlegender Mangel an PsychotherapeutInnen und Therapieplätzen – vor allem für KassenpatientInnen. Besonders spezifische Angebote wie Gruppentherapien, egal ob digital oder in Person, würden sicherlich großen Anklang finden. Doch TherapeutInnen- und Arztsitze lassen sich nicht wie Zeugenaussagen des Claas Relotius einfach so aus der Luft greifen. Nicht nur die Ausbildung nimmt geraume Zeit in Anspruch, auch die Bewerbung auf die zur Behandlung von KassenpatientInnen nötigen Arztsitze ist vielerorts ein aussichtsloser Prozess.
Trotz des hohen Bedarfs sind in Ballungsräumen wie Berlin ebenjene Sitze hart umkämpft – und nicht zuletzt teuer, sollte man einen bestehenden Sitz übernehmen wollen. Ob die an der Bedarfsplanung beteiligten Gremien nicht ausreichend Sitze vergeben, um dem bestehenden Bedarf gerecht zu werden, lässt sich nicht pauschal beantworten. Wer einen ganzen bzw. halben Sitz übernimmt, schultert einen Versorgungsauftrag von 80 bzw. 40 Wochenstunden – wie gewissenhaft TherapeutInnen dem nachgehen, ist unterschiedlich. Um Behandlung Suchende und passende TherapeutInnen effizient zusammen zu bringen, braucht es mehr und flexiblere psychotherapeutische Angebote.
Eine Lösung…
2015 hatte man den Grundstein gelegt, um diese Problematik in Angriff zu nehmen. Mit der Erweiterung des Sozialgesetzbuches V um § 103 Absatz 41 sollten den sogenannten Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) Konzeptbewerbungen auf Vertragsarztsitze erlaubt werden. Medizinische Versorgungszentren sind Einrichtungen zur ambulanten medizinischen Versorgung. Im Gegensatz zu klassischen Gemeinschaftspraxen erlauben sie vielen ÄrztInnen oder PsychotherapeutInnen, im Angestelltenverhältnis zu arbeiten.
Der große Vorteil von MVZ liegt im Zusammenlegen der nötigen Organisationsstrukturen. Abrechnung und Administration können von der Leitung oder spezifischen MitarbeiterInnen für die gesamte Praxis übernommen werden. Kosten und Aufwand werden für alle reduziert, TherapeutInnen haben dementsprechend mehr Zeit für Therapie. Gerade junge, gut ausgebildete TherapeutInnen haben die Möglichkeit, in ihren Beruf hineinzuwachsen, ohne gleich die Verantwortung der Führung einer Praxis inne zu haben. PatientInnen hingegen profitieren von einem größeren Team, aus dem die für sie passende BehandlerIn ausgewählt werden kann.
Mit der Möglichkeit der Konzeptbewerbung sollte den MVZ ermöglicht werden, ihr volles Potential auszuschöpfen. Falls in einem bestimmten Bezirk ein spezifischer Versorgungsbedarf besteht, kann ein MVZ ein Konzept vorlegen, das den Bedarf analysiert und eine Lösung vorschlägt. Entsprechend würde ein Businessplan aufgestellt, der zum Beispiel ein festes Angebot an Gruppen- oder Kindertherapie vorsieht. Auf Basis dieses Konzepts könnten dem MVZ direkt Arztsitze zugeteilt werden. Die Bedarfsanalyse, Konzeptualisierung und Planung eines MVZ inklusive der anschließenden Bewerbung um Sitze sind ein mehrjähriger Prozess. Allein die Zeit von der Bewerbung bis zur eigentlichen Verhandlung vor dem Zulassungsausschuss beträgt in Berlin über ein Jahr. Mit der aktuell nötigen Arztbindung heißt das, potenziellen Angestellten, deren konkrete Namen dem Ausschuss im Voraus genannt werden müssen, einen Job in über einem Jahr zu versprechen. Gehen die designierten TherapeutInnen während der Bewerbungsphase einem anderen Jobangebot nach, fällt ein gegebenenfalls dringend notwendiges, sinnvolles Versorgungskonzept mit hoher Kapazität ins Wasser. Ein langfristig angelegtes Versorgungskonzept eines MVZ sichert hingegen völlig personenunabhängig den Bedarf und kann im örtlichen medizinischen Netzwerk ein stabiles, zuverlässiges Standbein bilden.
Bei einer Konzeptbewerbung verpflichtet sich das MVZ, die entstehenden Stellen auf Basis dieses Konzepts zu besetzen – auch falls ein Mitglied ausfallen sollte, wird die Stelle zeitweise oder langfristig neu besetzt – der Bezirk verliert keine Therapiekapazität. Einzelpraxen vertreten selbstverständlich individuelle Bedürfnisse – das kann auch eine möglichst geringer Workload sein. Ein MVZ hingegen hat ein grundsätzliches fachliches und wirtschaftliches Interesse an der bestmöglichen Auslastung der ihm zugestandenen Sitze – intrinsische Motivation schlägt externe Kontrolle durch die Kassenärztliche Vereinigung (KV).
…knapp außer Reichweite
Leider ist dieser gesamte Prozess aktuell nicht möglich2. Seit 2015 können Konzeptbewerbungen um Arztsitze eingereicht werden, das heißt aber noch lange nicht, dass sie beachtet werden. Im Mai 2019 hatte der zuständige Zulassungsausschuss den Antrag auf Anstellungsgenehmigung eines Orthopäden abgelehnt. Konzeptbewerbungen seien zwar möglich, aber ohne Angabe einer konkreten Ärztin könne trotzdem kein Sitz vergeben werden3. Wenig später wurde die Entscheidung vom Bundessozialgericht (BSG) bestätigt – und das, obwohl § 103 Abs. 4 SGB V45 durch Jens Spahns 2019 in Kraft getretenes Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) erweitert worden war – leider nicht genug. Laut BSG könnten die Gerichte die Regelung nicht unter Achtung der Gewaltenteilung anpassen. Ein ausreichend angepasstes Gesetz müsse auch den Umgang mit ausgeschiedenen MitbewerberInnen und der Auflösung von MVZ samt deren Sitzen regeln. Solange diese wenigen Regelungen nicht nachgetragen werden, bleiben Konzeptbewerbungen ein unerfülltes Versprechen.
Perspektiven bieten
Medizinische Versorgungszentren müssen ihr Personal flexibel zusammenstellen können, um dem aktuellen, noch nie dagewesenen Bedarf nachzukommen und eine zuverlässige und effiziente Grundsicherung zu bieten. Auch für junge TherapeutInnen wäre diese Entscheidung Gold wert: Zwar dürfen TherapeutInnen nach ihrer Approbation PrivatpatientInnen behandeln, Kassenzulassungen werden jedoch nach Approbationsalter vergeben. Also, wie lange ist die Approbation her – wie viel Erfahrung wurde schon gesammelt? Dem aktuellen Modell nach lohnt es sich für MVZ also bloß, bereits erfahrene TherapeutInnen einzustellen, um ihre Versorgungskapazität zu erhöhen. Das ist eine Schande, da damit eine erhebliche Fortbildungsmöglichkeit auf der Strecke bleibt. Fortschritt wird laut schnarchend verschlafen wie Digitalisierung in deutschen Klassenzimmern.
Denn nur weil TherapeutInnen ihre Ausbildung abgeschlossen haben, bedeutet das noch lange nicht, dass sie wirklich bereit sind, auf eigene Faust ohne Supervision zu arbeiten. Junge PsychotherapeutInnen, aber auch FachärztInnen, könnten in konzeptgebundenen MVZ in die ambulante Versorgung eingeführt werden. Ein stabiles, etabliertes soziales und berufliches Umfeld würde jungen TherapeutInnen erlauben, gemeinsam mit ihrer Institution zu wachsen und so die Therapiequalität in Deutschland spürbar steigern. Ganz abgesehen davon, dass es jungen TherapeutInnen, aufgrund des enormen Preises eines Sitzes, in vielen Fällen die Behandlung von KassenpatientInnen überhaupt erst erlauben würde.
Ab und an wird die Kritik angebracht, MVZ würden klassische Einzelpraxen verdrängen und damit drohen, die freie Arztwahl einschränken. Doch das ist Unsinn6. Zum einen bilden MVZ zum jetzigen Zeitpunkt eher eine Nische – zum anderen bieten sie erhebliche Flexibilität, um allein intern für PatientInnen passende TherapeutInnen oder ÄrztInnen zu finden. Ganz abgesehen davon, dass die Argumente der dringend nötigen Deckung des Bedarfs und Planungssicherheit essenzieller Therapieangebote eindeutig überwiegen. Auch der mögliche Einwurf, das Konzept nehme MedizinerInnen ihre Eigenständigkeit, ist haltlos: Die meisten gehen ihrem Studium der Psychologie/Medizin o.Ä. nämlich nicht nach, um in verwaltungstechnischen Tätigkeiten zu versumpfen.
Interessanterweise gab es einen Vorläufer dieses recht liberalen Konzepts zur medizinischen Versorgung bereits in der DDR. Die damaligen Polikliniken erlaubten ähnliche Anstellungskonzepte, wurden jedoch mit der Wende völlig eingestampft. Heute wird angenommen, dass der Erhalt der Polikliniken den heutigen, zum Teil desaströsen Zuständen, der medizinischen Infrastruktur in den neuen Bundesländern hätte vorbeugen können.
Sehr geehrter Herr Spahn,
Die Regelung zur Konzeptbewerbung medizinischer Versorgungszentren ohne die Benennung spezifischer ÄrztInnen gehört dringend fertiggestellt. Es steht außer Frage, dass eine Liberalisierung des Besetzungsprozesses die Modernisierung und Institutionalisierung medizinischer Tätigkeiten in Deutschland erheblich voranbringen würde. Mehr flexible, größere, zentral organisierte Einrichtungen hätten auf die Herausforderungen der Pandemie schneller reagieren können, um eine dringend nötige, konstante Versorgung in turbulenten Krisenzeiten zu ermöglichen.
Uns allen ist bewusst, dass wir nicht am Ende dieser Pandemie stehen. Deutschland geht in den harten Lockdown. Grundsätzliche und zusätzliche psychische Belastung wird fürs Erste sicher nicht abnehmen. Die Konsequenzen der Pandemie für Körper und Psyche von Millionen Deutschen stehen ohnehin noch bevor. Wir müssen alles tun, um eine zuverlässige, hochwertige medizinische Versorgung zu ermöglichen. Die Nischen und Lösungen bestehen bereits, sie müssen nur zugänglich gemacht werden.
- https://dejure.org/gesetze/SGB_V/103.html[↩]
- Ein Fakt, den sogar Wikipedia aktuell falsch darstellt: https://de.wikipedia.org/wiki/Medizinisches_Versorgungszentrum#Vorteile.[↩]
- https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs00092-019-2323-x[↩]
- https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/2019_15.html[↩]
- https://www.buzer.de/s1.htm?g=SGB%2BV+11.5.2019&a=95[↩]
- https://web.archive.org/web/20150223120605/http://www.kbv.de/html/423.php[↩]