Die Normalität, sie scheint zurückzukehren. Zumindest der Blick auf die steigenden Impfquoten und einstellige Inzidenzen schafft die Grundlage für vorsichtigen Optimismus. Ob und inwiefern sich die neue Normalität nach dem Ausnahmezustand von der alten Normalität vor dem Ausnahmezustand unterscheidet, wird sich zeigen müssen. Auch die Wahl Joe Bidens und die damit einhergehende neue, alte Rolle der USA auf der Weltbühne, als Fackelträger des Westens, sorgt für eine gewisse Rückkehr zur geopolitischen Kontinuität. Die Wirtschaft ist wieder auf Wachstumskurs und die Europäische Union scheint sich, trotz anhaltender Probleme, von den Corona-Strapazen befreit zu haben.
Zugegeben, diese Sichtweise ist zu optimistisch. Sie ignoriert den neuen Autoritarismus in Ungarn, in Polen, im Herzen Europas, der die Europäische Union lähmt und ihre eigenen Werte auf die Probe stellt. Sie ignoriert, dass am 7. November letzten Jahres Donald Trump fast wieder Präsident der Vereinigten Staaten geworden wäre, der bis heute seine Wahlniederlage nicht anerkennt und mit ihm 70% seiner Wählerschaft. Mit dem Sturm auf das Kapitol und dem Erlass neuer Wahlgesetze in republikanischen Staaten sind die ersten Folgen bereits sichtbar. Diese Sichtweise ist auch zu optimistisch, weil sie ignoriert, dass die Präsidentschaft des italienischen Pro-Europäers Mario Draghi am seidenen Faden hängt, und die rechte Lega zusammen mit der noch rechteren Fratelli d’Italia währenddessen rund 40% der Wähler überzeugt. Ähnliches gilt für die französische Nationalistin Marine Le Pen, die dem liberalen Reformer Emmanuel Macron in neuesten Umfragen gefährlich nahe rückt.
Ich möchte kein Fearmongering betreiben. Grundsätzlich bin ich ein chronischer Optimist. Zugleich denke ich, dass die vom Rechtspopulismus ausgehende Gefahr insbesondere unter Liberalen noch weitgehend unterschätzt wird. In meinen Augen ist er eine größere Gefahr als die drohenden Kollateralschäden des Klimawandels und eine größere Gefahr als der umgreifende Totalitarismus Chinas. Nicht von außen, sondern von innen, greift der moderne Rechtspopulismus die aufklärerische Struktur von etablierten Industrienationen an. Die Errungenschaften des Liberalismus, der Individualismus, der Rechtsstaat und die offene Gesellschaft, stehen im Zentrum der rechtspopulistischen Angriffe auf die Demokratie.
Passend dazu habe ich vor einigen Tagen einen interessanten Artikel im Tagesanzeiger entdeckt, der wenige Monate nach der Wahl Donald Trumps und dem Erfolg des Brexit-Referendums veröffentlicht wurde. Die Ursache für diese (damals) undenkbaren Erfolge, so schreibt es der Autor Mark Dittli, sei eine “heranwachsende Schicht von Globalisierungsverlierern, die sich gegen die ’Eliten’ auflehne”. Dabei referiert er auf einen Text des deutsch-britischen Intellektuellen Ralf Dahrendorf, “Economic Opportunity, Civil Society and Political Liberty”(1995)1, in dem dieser die Herausforderungen und Gefahren beschreibt, die durch die Globalisierung auf die Industriestaaten zukommen. Auch fünf Jahre später sind die grundlegenden Aspekte des Essays aktuell und geben Erklärungsansätze für den heutigen Erfolg des Rechtspopulismus. Deswegen möchte ich sie in diesem Artikel nochmals aufgreifen. Ergänzend werde ich Textstellen aus Dahrendorfs Buch “Auf der Suche nach einer neuen Ordnung”2 anführen.
Die neue Herausforderung der Globalisierung
Die Schaffung von Wohlstand durch die Globalisierung, der innere Zusammenhalt der Bürgergesellschaft und die Verteidigung von politischer Freiheit, die Aufgabe der Verwirklichung dieser Ziele für die Industrienationen. ist das Thema von Dahrendorfs Essay, so schreibt er „the overriding task of the First World in the decade ahead is to square the circle of wealth creation, social cohesion and political freedom.“
Das Dilemma dabei: Diese drei Ziele sind nicht zwingend miteinander kompatibel, von einer „Quadratur des Kreises“ ist die Rede. „The challenges of globalization require responses which threaten civil society“, schreibt Dahrendorf und schlussfolgert: „the onset of anomie gives rise to the return of authoritarian temptations.“ Die Globalisierung bedrohe also das Grundgerüst der Bürgergesellschaft, was wiederum die Versuchungen des Autoritarismus befördere. So weit, so gut, aber gehen wir nun konkreter auf seine grundlegenden Gedanken ein.
Dahrendorf ist nicht gegen die Globalisierung. Ganz im Gegenteil, die Armut der dritten Welt durch den verwehrten Anschluss zum „Weltmarkt“ der ersten Welt, sei für ihn moralisch nicht zu rechtfertigen. Die einzige Antwort auf die „systematic inequality“ der ausgeschlossenen Entwicklungsländer und die „demütigenden Erfahrungen“ von Asylsuchenden als Folge, ist die „universalization of the benefits of the First World“. Den Aufbruch von verkrusteten Strukturen beschreibt Dahrendorf in „Auf der Suche nach einer neuen Ordnung“ als „Quelle der Hoffnung“.
Gleichzeitig betont er die Ambivalenz des Zerbrechens alter Strukturen, so ist dieser Prozess der Modernisierung für viele eben auch eine bedrohliche Vorstellung². „It has become hard, and for most impossible, to hide in this world. All economies are interrelated in one competitive market-place.“ Flexibilität wird von vielen Menschen nicht als Chance, sondern als Unsicherheit verstanden.
Aber um in dem kompetitiven Markt der neuen Welt zu überleben, müssen Unternehmen flexibler werden. „Flexibility means in the first instance the removal of rigidities. (…) Flexibility also means the readiness of all to accept technological changes and respond to them quickly. In marketing terms, flexibility is the ability to move in wherever an opportunity offers itself.“ Schumpeters Figur des Unternehmers, der sich durch seine „schöpferische Zerstörung“ auszeichnet, wird zur Personifikation der Globalisierung.
Eine Bedrohung für die Bürgergesellschaft?
Für Dahrendorf hat die „civil society“ einen hohen Wert, das wird nicht nur in diesem Essay deutlich. Der Begriff der Bürgergesellschaft beschreibt für ihn die Bindungen „in which we conduct our lives, and which owe their existence to our needs and initiatives rather than to the state.“ Politische Parteien oder die lokale Theatergruppe können solche Ligaturen, darstellen. Ebenso Universitäten, Kirchen, der Arbeitsplatz oder die eigene Familie. Ligaturen sollen Orientierung stiften und gleichzeitig als Kitt fungieren, der die Gesellschaft zusammenhält².
Doch inwiefern bedroht die Globalisierung nun eben diese Bürgergesellschaft?
Dahrendorf sieht die Gefahren insbesondere in der wachsenden Ungleichheit, die aus der ökonomischen Globalisierung resultiere. Dabei ist er nicht grundsätzlich gegen Ungleichheit, diese sei auch immer eine Quelle der Hoffnung und des Fortschritts. Vielmehr weist er auf neue Formen der Ungleichheit hin, die für Chancenlosigkeit bei den Bevölkerungsschichten der Globalisierungsverlierer sorge und damit unvereinbar mit dem Grundgerüst der „civil society“ sei.
„For one thing, income inequalities have grown. Some regard all inequalities as incompatible with a decent civil society; this is not my view. Inequality can be a source of hope and progress in an environment which is sufficiently open to enable people to make good and improve their life chances by their own efforts. The new inequality, however, is of a different kind; it would be better described as inequalization, the opposite of levelling, building paths to the top for some and digging holes for others, creating cleavages, splitting. (…) The systematic divergence of the life chances of large social groups is incompatible with a civil society“
Diese Ungleichheit äußert sich nicht nur in materieller Sicht, viele der „wahrlich Benachteiligten“ fühlen sich auch bei Fragen der Herkunft, der Nationalität oder der Religion vermehrt als Fremde. In Kombination mit den fehlenden Chancen zum sozialen Aufstieg entsteht so eine Unterschicht, die den Halt zur neuen Welt verloren zu haben scheint. Neben einer Oberschicht der Globalisierungsgewinner, entsteht eine Unterschicht derer, die von der Gesellschaft nicht mehr gebraucht werden.
Das sind durchaus harte Worte, aber Dahrendorf schreibt „they opt out of a society which has pushed them to the margin already. They become a threat“ und fügt an: „Worse still, the truly disadvantaged and those who fear to slide into their condition do not represent a new productive force, nor even a force to be reckoned with at present. The rich can get richer without them; governments can even get re-elected without their votes; and GNP 3 can rise and rise and rise“.
Die „Verlorenen“ werden zur Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, gleichzeitig scheint die Gesellschaft auch ohne sie voranschreiten zu können. Aber auch die Mittelschicht, Politiker reden oft von dem „Rückgrat der Gesellschaft“, kann Gefühle der Haltlosigkeit entwickeln. Das Fehlen von Arbeitsplätzen, keine Teilhabe an einer wachsenden Wirtschaft, auch die Überforderung durch die bereits angesprochene Flexibilität kann hierbei eine Rolle spielen.
Die Versuchungen des Autoritarismus
…entstehen, laut Dahrendorf, durch zwei sich-bedingende Tendenzen. Der Zusammenfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts und das Gefühl der Anomie führt bei Teilen der Gesellschaft zur Sehnsucht nach „einer neuen Ordnung“. „They look for a way out, for authority.“ Die Rufe nach einem starken Mann, der wieder für Ruhe und Ordnung sorgt, werden lauter.
Die zweite Versuchung des Autoritarismus sieht Dahrendorf in dem Aufkommen asiatischer Staaten, wie China und Singapur, die ein mögliches Gegenmodell zum Westen darstellen. Das Versprechen autoritärer Regime von der Dualität von wirtschaftlichem Wachstum und innerem Zusammenhalt (auch als Abwehr von westlichen Werten), wird dabei auf Kosten der politischen Freiheit verwirklicht.
„It is possible that a new Asian — essentially Chinese — balance will be found which combines world competitiveness in economic terms with a social cohesion that is traditional rather than civil, and with authoritarian political régimes.“
Die Gefahr dabei: Auch in westlichen Gesellschaften könnte dieser „chinesische Weg“ schrittweise Rückhalt finden:
„It is also possible that the example will affect European leaders and voters, and that a growing number will wish to go down a similar route at the risk of abandoning some of the cherished rights and liberties of the European and North American tradition. The temptations of such authoritarianism are considerable.“
Der neue Ruf des Autoritarismus, im Essay so eindrücklich beschrieben, hat heute in Europa bereits Widerhall gefunden. Viktor Orbans antisemitische Verschwörungsmythen über George Soros stehen stellvertretend für den Hass auf die „globalen Eliten“. Auch eine neue Fremdenfeindlichkeit, vor der Dahrendorf ebenso warnte, hat in westlichen Gesellschaften Aufwind. Trumps Wahlkampfversprechen der Mauer um Mexiko, aber auch die Null-Asyl-Politik der dänischen Sozialdemokraten referieren heute auf eine solche Angst vor Überfremdung.
Und nun?
Zugegeben, Kritik an der Globalisierung ist für Liberale zunächst schwer zu ertragen. Auch für mich. Für mich, weil ich mich zuerst als Europäer und dann als Deutscher sehe. Weil ich Freihandel und internationale Zusammenarbeit für eine wunderbare Kraft halte, die Millionen von Menschen auch in Zukunft aus der Armut befreien soll. Und weil ich den stetigen Wandel der Gesellschaft ebenso als eine Quelle der Hoffnung ansehe.
So wie es mir geht, wird es vielen Liberalen und Progressiven gehen, insbesondere in meiner Generation. Wenn Dahrendorf von einer “Schicht der Verlierer” redet, fühlen wir uns am wenigsten angesprochen. (Zumindest in Deutschland nicht, ist doch Jugendarbeitslosigkeit in vielen südeuropäischen Staaten durchaus ein gravierendes Problem.) Dennoch zeigt der Aufstieg des Rechtspopulismus, dass eine Auseinandersetzung mit den einhergehenden Problemen notwendig ist, um sich dem modernen Autoritarismus widersetzen zu können.
Dahrendorfs Essay ist auch heute noch lesenswert. Man tut gut daran, sich mit seinen Argumenten auseinanderzusetzen. Insbesondere den Wert der “civil society”, der Bürgergesellschaft, gilt es hervorzuheben. Dahrendorf positioniert sich bewusst au contraire zu dem thatcherschen Dogma “there is no such thing as society”. Eine solche Haltung sollte nicht als liberal betrachtet werden, denn sie ignoriert die notwendigen Voraussetzungen für eine liberale Gesellschaft.
Für Liberale sollte es eben nicht darum gehen, das Haus in dem die Freiheit blüht, mitsamt dem Vorgarten einzureißen. Sondern darum, die Zimmer in immer buntere Farben zu streichen und den Abstand zwischen Fußboden und Decke zu erhöhen, damit die Freiheit genügend Luft zum Atmen bekommt.
- Dahrendorf, Ralf: Economic Opportunity, Civil Society and Political Liberty. United Nations Research Institute for Social Development. 1995.[↩]
- Dahrendorf, Ralf: Auf der Suche nach einer neuen Ordnung : Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert. München: C.H.Beck, 2003.[↩]
- Gesamtwert der Waren und Dienstleistungen die von den Einwohnern eines Landes produziert werden[↩]