Zuallererst sei erwähnt, dass hier eine bestimmte Idee des sozialen Fortschrittes verteidigt werden soll. Sozialer Fortschritt bedeutet demnach die universelle Förderung des individuellen Wohlergehens im gesamtgesellschaftlichen Zusammenleben. Die pragmatische Blickrichtung im Sinne der Lösungsorientierung stellt sich dementsprechend diesem sozialen Auftrag, demokratisch vermittelte Ziele möglichst effektiv zu verfolgen. Nichts liegt dem progressiven Pragmatiker ferner, als dass die Ideologisierung der Mittel und Methoden diskursiv weiter voranschreitet, vielmehr liegt seinem Streben eine ethisch fundierte und dezidiert lernwillige Prinzipientreue zugrunde.
Die Förderung des individuellen Wohlergehens lässt sich, vereinfacht gesagt, herunterbrechen auf die realen und effektiven Chancen, die einem Menschen für ein gutes und gelingendes Leben in einer politischen Gemeinschaft zur Verfügung stehen sollten. Dahingehend sind einige politische Verwirklichungsbedingungen der aufgestellten ethischen Grundforderungen kritisch zu beleuchten. Dabei ist zu beachten, dass diese selbst Gegenstand offener politischer Deliberation sein müssen. Das daraus abzuleitende demokratische Findungsverfahren, das im öffentlichen Diskurs zwischen den gleichberechtigten Sphären der Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft stattzufinden hat, hilft uns, die erforderlichen Prioritäten und Korrekturen festzustellen.
“Gib einem Mann einen Fisch und du ernährst ihn für einen Tag. Bringe einem Mann das Fischen bei und du ernährst ihn ein Leben lang.”
Dieses chinesische Sprichwort stellt das ethische Kernanliegen plastischer dar. Die darin verteidigte Fortschrittsidee intendiert selbstverständlich, die lebensnotwendige Nahrungszunahme zu garantieren, denn ein menschenwürdiges Leben muss primär die Subsistenz sichern. Allerdings ist die formale Institutionalisierung der fürsorglichen Alimentierung des Bedürftigen nicht weitreichend genug. Vielmehr soll dem Einzelnen die Fähigkeiten des Fischens, des Angelbaus und der Fischlagerung beigebracht werden. Das bedeutet reale Chancen auf Selbstbestimmung, aber hiermit würde noch die unmittelbare Effektivität fehlen. Dazu wird ihm die nötige Grundausstattung gegeben, die Mittel und Werkzeuge, die erforderlich sind, jede einzelne Fähigkeit selbstständig zu nachzuvollziehen. Handelsoffene Marktzugänge ergänzen diese effektiven Chancen um eine mittelbare, soziale Handlungsebene.
Ein Mensch muss an allererster Stelle seine weitreichenden psychosozialen, biophysischen und kulturmateriellen Grundbedürfnisse befriedigen können, um eine vollumfängliche Entfaltung seiner Grundfähigkeiten erst anstreben zu können. Im Anschluss daran benötigt jeder Mensch, der sich seiner Kondition als gleichberechtigter Staatsbürger gewiss ist, eine umfangreiche Palette an Handlungs- und Beteiligungschancen, was beispielsweise darin seinen Ausdruck findet, dass die Teilnahme am wettbewerblichen Markt oder die Teilhabe am kulturellen Geschehen gewährleistet sind. Deswegen sind soziale Mobilität und soziale Sicherheit Hauptanliegen einer solchen pragmatischen Politik.
Der Wert der Arbeit muss gesondert ausgewiesen werden, da ihm ein zentraler Bestandteil der Selbstachtung eines jeden Individuums innewohnt. Aus eigener Lebensleistung, die moralische Anerkennung in der arbeitsteiligen Kooperationsgemeinschaft zu finden hat, hervorgebracht, sollten die Früchte der eigens eingesetzten Arbeit immer zu familiärer Selbstständigkeit und individuellem Vermögensaufbau ausreichen. Deshalb sind steuerliche Grundsatzfragen über Besteuerungshöhen immer mit den Anforderungen der sozialen Zweckverfolgung, der ökonomischen Vermeidung falscher Anreize und ihrer Angemessenheit zur Nutzenmehrung verbunden. Des Weiteren sind Steuerstrukturreformen angehalten, den Prinzipien der vertikalen wie horizontalen Steuergerechtigkeit strikt nachzukommen. Die lebenslange Möglichkeit, ein produktives Leben zu führen, sodass jeder Mensch reflektierte Gewissheit erlangt, sich ein schätzungswürdiges Leben erarbeitet zu haben, bleibt ein hervorgehobenes Ziel progressiver Politik. Weiterhin darf sie selbst ermächtigende Tätigkeiten in Gestalt von Gründerlust und Selbstständigkeit nicht als mindere Ausdrücke von Arbeit betrachten. Grundsätzlich sollte jede Art von Erwerbstätigkeit jedem offenstehen – hierbei ist dem Staat anzuraten, möglichst neutral zu bleiben.
Die politisch verantwortbare Verteilung von Erwerbschancen, Anpassungszumutungen und finanziellen Lasten, die während einer Zeit gravierender Umbrüche anfallen, in der die Transformation der sozio-ökonomischen Erwerbsstruktur stattzufinden hat, muss auf eine gerechte Zuteilung der individuellen Lebenschancen achtgeben und sie in ihren Strukturreformen mitdenken. Die Vorteile einer solchen Transformation dürfen nicht asymmetrisch erfolgen. Deshalb liegt dem Nachhaltigkeitsideal der stringenten Internalisierung der sozial-ökologischen Kosten unserer geteilten Lebensform eine solche Sprengkraft zugrunde. Denn es liegt in den subsidiären Freiheiten des Individuums, sich um jene Aufgaben und Entscheidungen zu kümmern, die dem Selbstausdruck und der Selbstverantwortung eines individuell gelingenden Lebens entsprechen. Die Inbesitznahme der eigenen Freiheitsfähigkeit ist ein hohes Gut, demnach ist der intertemporale kollektive Freiheitsschutz begründungspflichtig in seinen praktischen Interventionen. Der pragmatische Ansatz versucht stets effizient-rationale Lösungswege experimentell zu ergründen, ohne sich bewusst zu sein, welcher Entscheidungspfad vorrangig der richtige sein könnte. Die Spielräume zur Kontrolle in Bezug auf die eigenen Lebensziele stellen sich zwischen den ethischen Verbindlichkeiten und den Individualrechten ein, und dort, wo sie kollidieren und nicht zusammen gehen wollen, müssen sie in ein stimmiges und nutzenstiftendes Abwägungsverhältnis gesetzt werden.
Der progressive Pragmatist ist sich der Komplexität der anstehenden Herausforderungen bewusst. Nur weiß er ganz genau, dass die hinreichend bekannten Probleme von Staats- und Marktversagen schablonenhafte Allzwecklösungen verbieten. Eine innovationsfreundliche Wirtschaftsgrundordnung muss erwartungsstabile Investitionen incentivieren. Außerdem sind vielfältige, sowohl angebots- als auch nachfrageorientierte Politikmaßnahmen in ein anreizkompatibles Gesamtgefüge zu implementieren.
“So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig” bleibt immer noch eine gültige Prämisse, da Markt und Staat nicht konstruktiv gegeneinander in Stellung zu bringen sind, sondern eine sowohl synergetische als auch symbiotische, nicht abgeschlossene Verständigung in den Vordergrund tritt. Der regulierende, teilweise investiv lenkende „Sozialvorsorgestaat“ muss deswegen umso evidenzbasierter Entscheidungen treffen, wenn er in das informationsdichte Marktgeschehen eingreifen möchte. Er muss sich seiner operativen Wissens- und Machtgrenzen bewusst sein. Diesem Anspruch folgend muss der digitale Staat das „Smart Government“ anvisieren, welches eine verschlankte Verwaltung für qualitativ hochwertige und weltbeste öffentliche Güter garantieren soll.
Daher könnte man sich das Urteil erlauben, dass progressive Demokraten „Fazilitätsetatisten“ sind, die glauben, der soziale Staat habe primär für die Ermöglichungsbedingungen eines subjektiv guten Lebens mittels finanzpolitischer Erleichterungen zwecks ökonomischer Mehraktivität Sorge zu tragen. Infolgedessen ist es sein größtes Interesse, die Staatskapazitäten aufrechtzuerhalten, weil nur ein starker Staat mit einer guten, handlungsfähigen Regierung die Demokratie bewahren kann. Der Staat darf aber niemals zum praktischen Selbstzweck verkommen und gesellschaftliche wie privatwirtschaftliche Initiative ersticken. Er ist ein reines Instrument, im besten Fall ein Instrument des effektiven Altruismus, das durch Ressourcenbündelung schlechter gestellte Menschen in eine bessere Lebenslage versetzt.
Sozialer Zusammenhalt fördert den Bürgersinn, das Gespür für den anderen Menschen. Eine Gesellschaft, die jedem Bürger den gleichen moralischen Respekt entgegenbringt, stellt sicher, dass sie sich nicht im Fahrwasser der partikularistischen Fragmentierung verliert und die Handlungsfähigkeit einbüßt, die sie ermächtigt, als politische Gemeinschaft wirksam zu sein. Besonders hervorzuheben ist die risikoausgleichende Solidargemeinschaft, die sich zu Unterstützungs- und Risikoausgleichsleistungen verpflichtet, indem jeder angehalten ist, seinen Beitrag unter Gleichen, die sich gegenseitig in staatsbürgerlicher Freiheit anerkennen, zu leisten. Das Postulat der sozialen Gerechtigkeit verlangt dabei die bedachte Abwägung zwischen Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit in Hinsicht auf progressiv-demokratische Ideale wie die politische und demokratische Gleichheit, den gerechten Anteil am gemeinsam geschaffenen Wohlstand und die faire Chancengleichheit. Die Weiterentwicklung der politischen Partizipation stärkt zudem die Selbstwirksamkeit des republikanischen Staatsbürgers. Vor allem auf dezentraler und kommunaler Ebene können gemeinsame „Bottom-up-Projekte“ angestoßen werden, die sich in der alltäglichen Lebensrealität widerspiegeln. Die weiterhin essenzielle Aufgabe der vertieften Demokratisierung der repräsentativen Demokratie bleibt dem Progressivisten eine Herzensangelegenheit. Die ehrenamtliche Eigeninitiative ist mithin ein nicht zu vernachlässigendes Bindeglied zwischen den unterschiedlichen sozialen Sphären.
Soziale Gerechtigkeit muss national und international gedacht werden. Es geht darum, dass jedem Menschen seine unveräußerlichen Menschenrechte und lebenswichtigen Ressourcen zugestanden werden. Pazifistische Naivität schlägt bisweilen in Nachsichtigkeit gegenüber autoritären Regimen um, dies ist indes den eigenen moralisch gewichtigen Zielen mittelfristig nicht förderlich. Die vertiefte Ausweitung der Kooperation zwischen liberalen Demokratien sollte daher oberste Priorität für den progressiven Pragmatiker haben. Der internationale Handel ist zu begrüßen, wenn er sich auch innerhalb eines fairen ordnungspolitischen Wettbewerbsrahmens bewegt.
Der progressive Pragmatismus will die breite linkslehnende Mitte ansprechen, die sich unter anderem in der hiesigen Ampelkoalition teilweise widerspiegelt: Menschen mit einer pragmatischen, zukunftsorientierten Weltanschauung für die 20er Jahre dieses Jahrhunderts.
Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung des Gastautors wider.