Die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates ist wie die Freiheit der Religion und der Weltanschauung fest im Grundgesetz verankert. Warum die Freiheit der Religion und Weltanschauung zurecht einen so hohen Stellenwert genießt, ist leicht erklärt: Seit Alters her haben übergriffige und autoritäre Staaten die Religions- und Weltanschauungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger beschränkt. Von den Christenverfolgungen im Römischen Reich, über den Antijudaismus im Mittelalter, der sich immer wieder in blutigen Pogromen niederschlug und sich im 20. Jahrhundert mit einem rassistischen Biologismus vermengte, was in der industriellen Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten mündete, zeigt sich eine klar erkennbare Gefahr für die Religions- und Weltanschauungsfreiheit durch den Staat. Das Grundgesetz ist nicht zuletzt Gegenentwurf und Lehre aus der nationalsozialistischen Terror- und Willkürherrschaft. Es zielt deshalb darauf ab, diese Freiheit der Bürgerinnen und Bürger wirksam zu schützen. So erklärt sich der hohe Stellenwert, den die Religions- und Weltanschauungsfreiheit in Artikel 4 des Grundgesetzes, aber auch in vielen weiteren Verfassungen und internationalen Verträgen zum Menschenrechtsschutz genießt.
Mit Blick darauf kann schnell die Frage aufkommen, warum es dann zusätzlich nötig sein solle, dass der Staat in Fragen der Religion und der Weltanschauung neutral bleibt. Denn unbestritten tut er dies in Deutschland nicht. Christliche Feiertage und der Sonntag unterliegen einem besonderen gesetzlichen Schutz, den jüdische und muslimische Feiertage wie der Sabbat (Samstag) und der Tag der Versammlung (Freitag) nicht genießen. Am Karfreitag und anderen stillen Feiertagen sind nicht nur Christen, sondern alle Bürgerinnen und Bürger gesetzlich angehalten, sich einzuschränken. Tanzen ist verboten, wie auch die Aufführung bestimmter Filme. Christliche Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber genießen besondere Privilegien: Sie dürfen Beschäftigte entlassen, wenn diese gegen die Grundsätze ihrer religiösen Überzeugung handeln, also sich zum Beispiel scheiden lassen oder eine gleichgeschlechtliche Ehe eingehen. Der Staat überweist den Kirchen jährlich Geld, die sogenannten Staatskirchenleistungen, als Entschädigung für Enteignungen im Zuge des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803. Warum ist diese einseitige Parteinahme des Staates für die christlichen Kirchen problematisch?
Ein Aspekt der Antwort ist schon anhand der genannten Beispiele klar erkennbar: Indem der Staat die christliche Religion privilegiert, diskriminiert er mittelbar alle anderen Religionen und Weltanschauungen. Jüdische und muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger müssen Urlaubstage opfern, um ihre religiösen Feste zu feiern, Christen nicht. Aber auch nicht-religiöse Menschen werden eingeschränkt. Warum muss ein atheistischer Kioskbetreiber seinen Kiosk am Sonntag geschlossen halten, weil es die Religion seinen christlichen Mitbürgerinnen und Mitbürgern gebietet? Niemand wird in seiner persönlichen Freiheit eingeschränkt, wenn dieser Kiosk offen hat. Die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates, wie die Jungen Liberalen sie vertreten, verfolgt das Ziel, die Gleichbehandlung aller Menschen sicherzustellen. Sie verwehrt sich einer Einnahme des Staates durch bestimmte religiöse Dogmen zulasten von Anders- und Nichtgläubigen. Damit dient sie letztlich dem Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit, die auch das Recht schützt, keine Religion oder Weltanschauung zu haben.
Aber es gibt noch einen zweiten Aspekt der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates, der hervorgehoben werden sollte. Denn es ist keineswegs so, dass dieses Prinzip nur den Staat und seine Bürgerinnen und Bürger vor religiöser Instrumentalisierung der Politik schützen soll. Parteinahme für eine Seite führt stets zu Abhängigkeitsverhältnissen und Abhängigkeiten können missbraucht werden. Die Neutralität des Staates in Fragen der Religion und Weltanschauung dient daher auch dem Schutz derselben vor staatlicher Einflussnahme und Instrumentalisierung und damit letztlich dem Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Dass diese Gefahr der Instrumentalisierung real ist, können wir gegenwärtig in Russland erleben: Der russische Staat missbraucht die russisch-orthodoxe Kirche, um seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine zu legitimieren.
Vieles spricht also dafür, die nach dem Grundgesetz gebotene Trennung von Staat und Kirche entschlossen anzugehen. Dabei ist es verständlich, dass gerade die christlichen Kirchen Reformen blockieren; sind sie doch die maßgeblichen Profiteure der gegenwärtigen staatlichen Parteinahme. Diese Haltung ist aber zu kurz gedacht. Denn wer sagt eigentlich, dass es nicht möglich sein soll, einseitige Privilegien abzuschaffen und zugleich allen Bürgerinnen und Bürgern unabhängig von ihrem Glauben mehr Freiheiten zuzugestehen? Blicken wir erneut auf das Beispiel der Feiertage: Statt einem besonderen Schutz für christliche Feiertage wäre es doch möglich, allen Bürgerinnen und Bürgern zusätzliche Sonderurlaubstage zuzugestehen, die diese frei auf das Jahr verteilen können. Christliche Mitbürgerinnen und Mitbürger können weiterhin Weihnachten im Beisein ihrer Liebsten verbringen, aber das gleiche können jüdische und muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger am Pessachfest oder beim Fastenbrechen am Ende des Ramadans tun. Und wer mit alledem nichts anfangen kann, der kann einfach einen schönen Tag mit Freunden am See genießen. Das muss das eigentliche Ziel sein, welches Liberale mit der Trennung von Staat und Kirche verfolgen: Mehr Freiheit für mehr Menschen.
Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung des Gastautors wider.