Afghanistan – Freedom didn’t endure

Die aktuelle Situation in Afghanistan ist eine Katastrophe. Neben den verlorenen Hoffnungen eines ganzen Volkes auf Gleichstellung, Fortschritt und Freiheit offenbart sich auch die Ohnmacht Deutschlands.

Die aktuelle Situation in Afghanistan ist eine Katastrophe – Abermilliarden US Dollar, die Leben zehntausender amerikanischer und NATO Soldaten, Contractors, Hilfskräfte und Journalisten, sowie das Glück unzähliger Familien auf der ganzen Welt: alles verloren in den letzten 20 Jahren. Ebenso wie die Hoffnungen eines ganzen Volkes auf Gleichstellung, Fortschritt und Freiheit.

Nachdem die Bush Administration mit Operation Enduring Freedom 2001 den neusten Abschnitt des Afghanistan Krieges los trat, beendete US Präsident Biden den Einsatz zum 15. August 2021. Biden hält damit an seinem Wahlversprechen fest. Seine Überzeugung: Falls der afghanische Staat nach zwanzig Jahren Amerikanischer Okkupation, 300.000 ausgebildeten Soldaten, gründlicher militärischer Ausstattung, Demokratisierung und ökonomischen Aufbaus western style nicht auf eigenen Beinen stehen könne, würde das auch in einem, fünf oder zwanzig Jahren nicht der Fall sein.

Freedom didn’t endure.

the messy exit…

Seit Mai 2021 schätzten US-Geheimdienstberichte die Zeit bis Afghanistan, trotz der überlegenen Truppenstärke der Regierung, wieder in die Hände der Taliban fallen könne, auf 6 bis 18 Monate. Noch im Juni 2021 verwies der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) auf die laufenden Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung, deren Erfolg er „für nicht unerreichbar“ hielte. Zum 29. Juni waren die letzten deutschen Soldaten abgezogen. Auch amerikanische Truppen verließen von Anfang Juli bis zum 15. August Basis für Basis, die jeweils in kürzester Zeit in die Hände der Taliban fielen.

Am 15. Juli waren 200 von 400 der afghanischen Bezirke Taliban-kontrolliert und 80 umkämpft. Am 15. August fiel Dschalalabad, die letzte große Stadt vor der Hauptstadt Kabul. Am 15. August evakuierten die Amerikaner ihre Botschaft. Am 15. August floh der „regierende“ Präsident Ashraf Ghani des Landes. Am 15. August standen die Taliban im Regierungspalast und der Polizeidirektion Kabuls.

In alledem lässt sich diskutieren, ob der amerikanische Abzug aus Afghanistan, der praktisch alle anderen Akteure des Krieges in Zugzwang brachte, nach all dieser Zeit und in dieser Form richtig war – wobei wir uns glücklich schätzen können, wieder sachlich die Kompetenz eines Präsidenten in einer Sache diskutieren zu können, anstatt seines blanken Wahnsinns. Außer Frage steht jedoch, dass der Abzug messy, tragisch und peinlich war. Für die Amerikaner definitiv. Für uns Deutsche sogar umso mehr.

Am meisten schockiert die anscheinende Blauäugigkeit aller Beteiligten. Dass Afghanistan wieder in die Hände der Taliban fallen würde, stand schon vor der Rückeroberung der ersten ehemaligen US-Stützpunkte fest. Fraglich war immer nur “wann?”. Davon ausgehend, dass die Afghan National Army (ANA) ein paar Wochen, ein paar Monate, vielleicht sogar ein Jahr aushalten würde, vollzogen die USA, Deutschland und die restlichen NATO Staaten frühzeitig den Abzug ihrer Streitkräfte. Um den Anschein von Vertrauen in die etablierte Regierung zu erwecken, ließ man jedoch Hilfs- und Ortskräfte, sowie Botschaftspersonal zurück.

… en detail

Das aktuelle Chaos lässt sich unter anderem auf diesen Beschluss zurückführen. Die Entscheidung an sich ist nachvollziehbar, doch in Kontext dessen, dass Afghanistan in den letzten 40 Jahren immer wieder seine Unberechenbarkeit bewiesen hat, scheint sie ohne einen griffbereiten Notfallplan im Nachhinein unfassbar naiv. Es ist fraglich, ob bereits Pläne bestanden, um große Mengen Zurückgelassener auf die schnelle und unter Druck zu evakuieren. Fest steht bloß, dass sie offensichtlich nicht, beziehungsweise nicht weit genug umgesetzt wurden, um im Zweifel greifen zu können.

Schon am 7. August forderte die US-Botschaft alle US-Bürger auf, das Land sofort zu verlassen, nachdem eine Provinzhauptstadt nach der anderen kampflos und ohne Verstärkung aus Kabul an die Taliban gefallen war. In den USA erkannte man die Not zur Evakuierung der verbliebenen Amerikaner und afghan allies. Auf Verwaltungsseite begann eine Papierschlacht, um die schnelle Einreise von Nicht-US-Amerikanern zu ermöglichen – auch derer mit wenigen Papieren. 

Am 12. August landen 5.000 zusätzliche US-Streitkräfte in Kabul, um Geleitschutz zu bieten und den Kabul International Airport (KIA) zu sichern. Kanada, UK und USA fliegen von hier an im Akkord Menschen aus. Auch der zivile Andrang verzweifelter Afghanen ist bald riesig. Die Bilder der vom Himmel stürzenden jungen Männer, die sich an die Fahrwerke einer amerikanischen Boeing C-17 Globemaster geklammert hatten, schockieren die ganze Welt. Währenddessen schafft die Maschine des gleichen Models mit dem Callsign REACH871 in einem Rutsch 640 Menschen in Sicherheit.

Das deutsche Chaos

Die Bundeswehr hingegen kündigt am Abend des 14. an ihre Evakuierungsaktion vorzubereiten. Sie ist angesetzt auf den 16. August. Tage zu spät. Taliban marschieren durch die Straßen Kabuls während deutsche Staatsbürger und zivile Helfer in der Stadt festsitzen. Das deutsche Botschaftspersonal sitzt indes von Freitag dem 13. bis zum 15. auf dem Botschaftsgelände, bis sie endlich von amerikanischen Chinook Hubschraubern evakuiert werden. Außenminister Maas lässt die prekären Umstände der “Verlagerung” unerwähnt, ebenso wie die Unterstützung der Amerikaner und die Vorwürfe der ignorierten Evakuierungsanfragen. Generell: Die Nachrichten von unbeantworteten Anfragen an das Auswärtige Amt – von Seiten der Bundeswehr, Staatsbürgern und zivilen Helfern sind unzählig. Sowohl die USA, als auch die Arabischen Emirate bieten an Deutsche Staatsbürger auszufliegen. Die Angebote werden abgelehnt. In Deutschland sucht man Flugzeuge und Munition für die Evakuierung.

In der Nacht auf den 16. August treibt man in Deutschland drei Airbus A400m – mit einem drittel der Fassmenge der amerikanischen C-17s, die größten Flugzeuge, die der Luftwaffe zur Verfügung stehen, und einen Airbus 310 MedEvac auf. Zwei der Maschinen starten nachmittags in Baku. Sie kehren abends ohne Einsatz wieder zurück. Das Flugfeld voller Menschen zwingt die A400m zur Umkehr. Die Amerikaner räumen das Feld zu Start und Landung ihrer Flugzeuge mit Hubschraubern. Jene stehen den Deutschen nicht zur Verfügung.

In dieser Nacht folgt ein weiterer Landeversuch. Dieser Flug stellt sich als absolutes PR-Disaster heraus und schockiert am Morgen des 17. die ganze Republik. Besagter Airbus A400m – ein 200 Mann Flugzeug – verlässt Kabul mit nur 7 Passagieren. Noch zuvor am selben Tag fielen Menschen vom Himmel. USA, Kanada und UK hatten indes bereits über 10.000 Menschen aus dem Land geschafft. Währenddessen erklärt das Auswärtige Amt verzweifelten Angehörigen in Deutschland, dass Staatsbürger in Kabul sich doch online zur Ausreise anmelden und Coronatests beschaffen sollten. 1

Die letzten Tage in Kabul

Mehr als eine Woche später ist die deutsche Evakuierungskampagne in Afghanistan endlich einigermaßen im Rollen. Deutsche A400m fliegen regelmäßig und transportieren an die 200 Schutzbedürftige pro Flug. Die ersten 1.000 Evakuierten sind schon lange geknackt. Auf Bitte der Amerikaner vor Ort wurden sogar einige sogenannte “Spätzchen”, kleine bewaffnete Eurokopter, zur Unterstützung der Evakuierung aus kritischen Regionen, vor allem aus Städten, entsandt. Auch das KSK hat nun begonnen fleißig VIPs aus feindlichem Gebiet zu geleiten.

Nach einer kurzen Folge von Anschlägen nahe des Flughafens brach die Bundeswehr die Evakuierungsaktion unverzüglich ab. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) stellte fest: “Die Anschläge haben deutlich gemacht, dass eine Verlängerung des Einsatzes in Kabul nicht möglich war”. Die vollständige Aussage müsste lauten “für Deutschland nicht möglich war.”

Den verlorenen Respekt und das verlorene Vertrauen im Land und unter unseren Verbündeten werden wir wohl “trotz” 5.000 Ausgeflogenen nicht zurück gewinnen – über 10.000 mit Recht auf Schutz in Deutschland verbleiben in Afghanistan. Die fehlende Aufmerksamkeit, Vorbereitung, Geistesgegenwart, Flexibilität, Ausstattung und ganz einfach Kompetenz – vornehmlich von Seiten des Auswärtigen Amtes – waren einfach ein zu großes Desaster. Der Bundesvorsitzende des Bundeswehrverbandes André Wüstner beklagt indes nach abgeschlossener Evakuierungsaktion zum 26. August “die Bundesregierung sei nur eingeschränkt strategiefähig”, und stellte fest, “dass die Ressorts nur begrenzt miteinander sprechen, nicht in der Lage sind, seit April schnell ein Konzept zu erstellen”.

Unsere Verantwortung

Mindestens so frustrierend wie die generellen Umstände: Wir, die deutschen Bürger:Innen tragen einfach Mitschuld.

Soldaten der Bundeswehr werden in der Bahn eher kritsch beäugt, als freundlich gegrüßt. Das spiegelt sich auch in Bewerbungen wieder. Unser durch seinen Status als Verteidugungsarmee ohnehin schon beeinträchtigtes Heer wird durch fehlende Zustimmung und Popularität weiter verkrüppelt. Deutsche Soldaten sind hervorragend ausgebildet, werden dazu angehalten ihren eigenen Kopf zu nutzen und Befehle auch zu hinterfragen – dennoch ist kompetenter und moralisch lauterer Nachwuchs um etwaige rechte Bestrebungen auszugleichen schwer zu finden. Das ganze ist ebenso ein politisches Problem: militärisches Involvement und erstrecht alles was als “Aufrüstung” wahrgenommen wird, wird als Kriegstreiberei ausgelegt und geächtet.

Das politische Desinteresse resultiert im Vertragsbruch der NATO-Auflage 2% des Haushaltes in Verteidungsausgaben aufzubringen, damit auch fehlendem oder nicht instandgehaltenem Equipment und gelinde gesagt völliger Inkompetenz der mit Verteidigungsaufgaben betrauten Ressorts. Die fehlende gesellschaftliche Unterstützung verbietet der BRD außenpolitische Verantwortung zu übernehmen und Einfluss auszuüben, der einem G7-Land gerecht würde. Die politische und gesellschaftliche Schelte unser eigenen Rüstungsindustrie, fehlende Aufträge seitens Deutschlands, sowie argwöhnisch beäugte Ausfuhrbeschränkungen würgen unsere eigene Rüstungsindustrie ab.

Wir müssen uns als Gesellschaft eingestehen, dass im Begriff Rüstungsindustrie eine gewisse Wahrheit steckt. Die Welt ist ein chaotischer, und fürs erste auch ziemlich mit Gewalt angereicherter Ort. Humanitäre Hilfe, die wir als Industrienation wohl zweifelsohne so weit es geht leisten wollen, ist in Krisenregionen nunmal nicht ohne militärische Ausstattung möglich. Auch die Ärzte ohne Grenzen können nicht arbeiten, sofern sie völlig schutzlos bleiben. Dieser Verantwortung können und sollten wir uns einfach nicht entziehen.

Auch Ausweichmöglichkeiten, um das eigene Gewissen ohne Schießpulverkontakt aufzubessern sind leider einfach unzureichend. Hinter jeder 5 Euro Spende im Krisenfall mag die beste Intention stehen, doch weder kauft das auf die Schnelle Fahrzeuge, die die Flutgebiete in NRW bestreiten können, noch bringen 3 extra Schüsseln Reis Schutzbedürftige Deutsche und Afghanen außer Lebensgefahr. Verschanzt in einem kleinen Haus in Afghanistan mit den Taliban und dem IS vor der Tür überlebt man 14 Tage ohne Essen, aber im Zweifel keine 2 Stunden, sofern weder ein Flugzeug noch ein Heli oder gut ausgestattete KSK Soldaten vor deiner Tür stehen.

Der Ausblick

Trotz allem wäre es unzulässig und zynisch zu behaupten, die letzten 20 Jahre in Afghanistan seien für Nichts gewesen – wenn es auch verlockend sein mag. Es sind 20 Jahre die jungen Frauen Bildung erlaubt haben und unzählige Verbrechen an der Menschlichkeit verhindert haben – aber dennoch. Man kann nicht in einen terrorkratischen Staat einziehen und erwarten in 20 Jahren die Pfeiler des Landes zu ändern, geschweige denn Patriotismus für einen Staat zu erwirken, der seine Bürger nie selbst geschützt hat.

Mit den letzten deutschen Staatsbürgern aus dem Land und der Planung der weiteren Evakuierung aller Schutzbedürftigen hoffentlich in der Mache, müssen wir das aus der Situation machen, was wir können: Lernen. Die Nächste Bundesregierung darf die Fehler und Unzulänglichkeiten der jetzigen in Verteidigungssachen nicht wiederholen. Ebenso müssen die Deutschen ihr völlig realitätsfernes Mindset davon wie humanitäre Hilfe und effektive Außenpolitik stattfinden können endlich in die Tonne treten. Falls nicht, wird Deutschland nie in der Lage sein, die außenpolitische Verantwortung zu übernehmen, die wir und andere Nationen eigentlich von uns erwarten können sollten.

Wir müssen den Bundeswehrsoldat:innen unseren vollen Dank aussprechen, die sowohl in Angesicht des Terrors Afghanistans und der deutschen Zerwaltung ihr bestes getan haben, um Menschenleben zu bewahren.

  1. https://twitter.com/ennolenze/status/1427525980462231583?s=20[]

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