Frieden hier, Frieden dort, Frieden überall – kaum ein Wort ist in den letzten Wochen präsenter. Es ist das Wort der Stunde, wenn in dem Deutschland, in dem jeder B-Promi-Intellektuelle ganz im Sinne des humboldtschen Bildungsideals Völkerrechtler, Verteidigungsexperte und General zugleich zu sein wähnt, in pathetischen Texten ein Ende des Krieges gefordert wird. Während in Dnipro russische Bomben auf Zivilisten einhageln, wird hierzulande zunehmend mit einem durch Verhandlungen oktroyierten Waffenstillstand geliebäugelt. Der Grund hierfür ist in erster Linie ein falscher Begriff des Friedens, der sich ausschließlich in Abgrenzung zum Zustand des Krieges versteht, ohne die gegenseitige Kontiguität zu begreifen.
Nicht ohne Grund heißt der Titel von Lew Tolstojs Jahrhundertwerk Krieg und Frieden – und nicht Krieg oder Frieden. Beide Zustände lassen sich nicht getrennt als klassische Antagonie verstehen, sondern müssen als sich bedingende Wechselwirkung betrachtet werden. Aus dem falschen Frieden sprießt immer der Kern des Krieges, während sich im Krieg die Grundlage des neuen Friedens entscheidet. Ein andauernder Kriegszustand kann eher im Sinne des Friedens sein als ein direkter Frieden. Ja, Krieg ist Frieden – aber nein, auf eine orwellsche Umdeutung möchte ich nicht hinaus. In definitorischer Hinsicht lassen sich beide Begriffe klar abgrenzen, so ist es beispielsweise “die Unmöglichkeit, frei zu atmen und leicht zu sprechen (…) was die Wirklichkeit des Krieges fundamental von der Wirklichkeit des Friedens unterscheidet”, wie der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan im Hinblick auf den russischen Angriffskrieg feststellte.
Vielmehr soll auf die intertemporale Dimension beider Begrifflichkeiten hingewiesen werden. Das Prinzip der “intertemporalen Freiheitssicherung”, geprägt durch das wegweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts, betrifft nicht nur den Klimaschutz oder öffentliche Finanzen. Die CO2-Emission von heute kann die Überschwemmung von morgen sein – gleichzeitig vermag der Frieden von heute, zum Krieg von morgen zu werden. Kategorien wie Frieden oder Krieg haben nur dann einen normativen Wert, wenn sie konsequentialistisch gedacht werden. Oder anders gesagt, Frieden kann nur dann Selbstzweck sein, wenn der Frieden von heute den Frieden von morgen einschließt.
Das ist, was besserwisserische deutsche Intellektuelle ausblenden, wenn sie laut über Waffenstillstandsverhandlungen nachdenken und damit natürlich meinen, dass die Ukraine durch ihre westlichen Partner an den Verhandlungstisch gezwungen werden soll. Das große Wort des Friedens wird zum symbolischen Heiligenschein, um den Forderungen Russlands nachgeben zu können, ohne es in der Form sagen zu müssen. Man schreibt Frieden und meint “die Ukraine solle doch bitte aufgeben”, man redet von Verhandlungen und meint “die Ukraine solle den Donbass und die Krim abgeben”. Es ist der Zynismus einer systematischen Begriffs-Verkrüppelung, durch den die Ukraine schon einmal in ein unvorteilhaftes Abkommen manövriert wurde.
Der heutige Angriffskrieg auf die Ukraine lässt sich nur im Kontext des Minsker Abkommens von 2015 verstehen. Er lässt sich nur durch die damaligen Zugeständnisse an Russland verstehen – die Präsident Putin dazu ermutigten, noch einen Schritt weiter zu gehen. Minsk II war die Manifestierung eines in die Zukunft verlagerten Krieges unter dem Banner des angeblichen Friedens der Gegenwart. Dass acht Jahre und Tausende ermordete Ukraine später wieder das Fass der Verhandlungstisch-Floskeln aufgemacht wird, ist schwer begreifbar. Ist es Naivität oder Böswilligkeit? Vermutlich beides, und dazu wieder einmal die verstellte Sicht der Deutschen auf die osteuropäischen Verhältnisse.
Es ist der Unwille zu erkennen, dass erzwungener Frieden eben nicht bedeutet, dass Russen und Ukrainer in einer heilen Welt gemeinsam Borschtsch löffeln und sowjetische Volkslieder singen. Dass Frieden für eine Frau im Donbass vermutlich etwas gänzlich anderes bedeutet als für eine Deutsche, die in einer sicheren Welt aufwacht und einschläft. Dass ein ukrainischer Ehemann mit drei Kindern sein Leben nicht deswegen als Soldat aufs Spiel setzt, weil er für den Krieg ist – sondern für den Frieden. Im kolonialistischen Reflex der Gegenwart reden Deutsche über Frieden in der Ukraine, ohne zu reflektieren, welchen Frieden Ukrainer wirklich möchten. Ja, wir alle wünschen uns ein Ende des Krieges. Aber nein, die Bedingungen des Friedens werden nicht auf den Seiten des deutschen Feuilletons festgelegt – sondern in den Regierungsgebäuden Kievs.
Ciceros Ausspruch, dass der “ungerechteste Frieden immer noch besser als der gerechteste Krieg sei”, mag für eine Großmacht, die sich die Bedingungen des Friedens durch Waffengewalt selber schafft, ein akzeptabler Grundsatz sein. Nicht aber für all die Länder, die ihren täglichen Kampf um Selbstbestimmung gegen die Großmächte dieser Erde führen müssen. Das ist, was in der Ukraine eigentlich auf dem Spiel steht. Der Krieg geht weit über das ukrainische Territorium hinaus. Wer der Ukraine den Frieden aufzwingen will, verlagert nicht nur den nächsten russischen Angriffskrieg in die Zukunft. Nein, man schafft auch einen gefährlichen Präzedenzfall für all die autoritären Regimes, die über das Staatsgebiet hinausgehende territoriale Ambitionen haben und nur auf den passenden Moment warten.
In Taiwan, im Balkan, im Baltikum – die Freiheit in vielen Regionen dieser Welt steht in der Ukraine auf dem Spiel. Der russische Feldzug ist der Versuch, eine neue geopolitische Ordnung zu konstruieren. Eine Ordnung, in der das Selbstbestimmungsrecht der Völker noch weniger gilt als heute und das Völkerrecht nicht mehr als ein leeres Stück Papier ist. Eine Welt, die wieder unter den Großmächten aufgeteilt wird, und wo wieder verschiedene Machtsphären die Geopolitik im Sinne des huntingtonschen Clash of Civilizations dominieren. Im aufgezwungenen Frieden in der Ukraine liegt das Potenzial, Folgekriege auf jedem Kontinent zu entfachen.
Nein, Frieden ist nicht Frieden. Anstatt heute über einen illusionären Waffenstillstand zu räsonieren, sollten wir morgen deutsche Leoparden in die Ukraine schicken. Die Bedingungen für einen echten Frieden in der Zukunft werden in der Gegenwart durch Waffenlieferungen und finanzielle Unterstützung geschaffen. Mit jedem Panzer, jeder Patrone und jedem Euro geben wir der Ukraine die Möglichkeit, über ihre Zukunft selbst zu entscheiden und so die Grundlage für einen langanhaltenden Frieden zu schaffen. “Die zwei mächtigsten Krieger sind Geduld und Zeit”, heißt es in Krieg und Frieden von Tolstoj – sie beide stehen heute auf der Seite der Ukraine.