Der Weltgeist im Weizenfeld

“Der Weltgeist liegt in den Weizenfeldern der Ukraine und wir können entscheiden, ob russische Panzer oder deutsche Leoparden die ukrainische Steppe besiedeln. Die Ukraine kämpft nicht nur für sich – sie kämpft für eine liberale Weltgeschichte.”

Francis Fukuyama ist zurück – mitsamt Weltgeschichte und ihrem Ende. Was diese Geschichte nun eigentlich sein soll? Nur selten wird über sie gesprochen. Meist in Ausnahmemomenten wie dem Tod der Queen im September. 96 Jahre alt und 70 Jahre Königin – Zeitenwende also auch in Großbritannien. Es ist einer dieser Momente, in der die Geschichte in ihrer wortwörtlichen Unfassbarkeit für einen Augenblick greifbar wird und sich die Zeitlichkeit unserer selbst offenbart. Es ist einer dieser Momente, bei denen von Zäsur gesprochen wird, weil im Trifekta aus Gewesenheit, Gegenwart und Zukunft nur Letzteres unbestimmt bleibt. Eine alte Ordnung zerbricht und eine neue steht vor der Tür.

Doch dieser Artikel soll nicht im Zeichen Queen Elizabeths stehen. Nicht nur in ihrem Tod reflektiert sich die Geschichte, die überall präsent, aber selten sichtbar ist. Der Kampf um die Geschichte wird in vielen kleinen und größeren Orten dieser Welt täglich ausgetragen. Der Kampf um die Geschichte ist ein Kampf um die zukünftigen Verhältnisse dieser Welt. Revolutionen, Kriege, ja auch Wahlen – sie alle lassen uns einen Blick auf die Zukunft werfen und auf das, was sein könnte. Dabei gehen die Auswirkungen dieser täglichen Auseinandersetzungen weit über die innerstaatlichen Verhältnisse hinaus. Eine Revolution in Frankreich, ein Krieg in Europa oder ein Aufstand in Haiti; zentrale Momente der Geschichte sind nicht selten Richtungsentscheidungen für die Zukunft.

Die wichtigste Richtungsentscheidung dieses Jahrzehnts wird heute auf dem europäischen Kontinent geführt. Eine Richtungsentscheidung zwischen Demokratie und Autoritarismus, zwischen Liberalismus und Totalitarismus, zwischen Souveränität und Imperialismus, zwischen Recht und Unrecht; zwischen der Ukraine und Russland. Der russische Angriffskrieg mag territorial (noch) auf die ukrainischen Gebiete beschränkt sein, geht ideologisch aber weit über Ländergrenzen hinaus. Es ist ein Angriff auf die ideologischen Verhältnissen dessen, was wir “liberale Demokratie” nennen.

Nicht ohne Grund spricht Präsident Putin vom Aufbruch in einen “multipolaren Moment”. Der Aufbruch in eine Welt, in der Recht und Gesetz von sekundärer, tertiärer oder überhaupt keiner Bedeutung mehr sind. Der Aufbruch in eine Welt, wo im Kampf der Großmächte das Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht durchgesetzt werden kann – sei es in der Ukraine, im Baltikum oder in Taiwan. Der Aufbruch in eine Welt, in der die liberale Demokratie zum Auslaufmodell geworden ist und sich regionale Adaptionen des Autoritarismus in jeder Ecke des Planeten eingenistet haben. Das ist die Welt, von der Vladimir Putin träumt, und diese Welt steht heute in der Ukraine auf den Spiel.

Die stärksten Verteidiger der liberalen Demokratie sind heute nicht in Paris, Washington oder London zu finden. Sie stehen in Charkiw, Izium oder Cherson und erobern ihr Gebiet von den russischen Invasoren zurück. Jeder Meter, den die ukrainische Regierung um Präsident Zelenskyy zurückerobert, ist ein Meter für die Demokratie. Jeder zerstörte Jet oder Panzer ein Gewinn für den Liberalismus und jedes demolierte russische Bataillon ein Schlag gegen den globalen Autoritarismus. In der Ukraine steht jetzt für die nächsten Jahre viel auf dem Spiel. Bislang gibt es Anlass zur Hoffnung.

Hoffnung für die Demokratie meint auch die Rückkehr der liberalen Geschichtsschreibung. So zeige die ukrainische Resilienz doch, dass ein autoritäres Jahrhundert (Ralf Dahrendorf) keine zwingende Notwendigkeit ist – oder bleibt es nur ein kleiner Pyrrhussieg? Unlängst nahm Francis Fukuyama die Ukraine als Beispiel, um in einem neuen Artikel zu verkünden, dass “das nun wirklich das Ende der Geschichte sei”. Neben dem globalen Liberalismus rettet die Ukraine also auch en passant die liberal-hegelianische Theorie Fukuyamas, der in den frühen 90ern aufbauend auf Alexandre Kojève (und seiner Hegel-Exegese) das “Ende der Geschichte” und den Sieg unseres Systems verkündete. Ausgehend von der französischen Revolution sei es die liberale Demokratie, auf die sich der Weltgeist zubewege und die sich als letzte Synthese der Weltgeschichte manifestiere – als letztes System ohne innere Widersprüche.

Heute und damals eine kontroverse These, die in diesem Jahrhundert immer schlechter zu altern schien. Aber auch schon damals von liberalen Schwergewichten als “dumme Phrasen” (Karl Popper) oder “nonsense” (Isaiah Berlin) abgestempelt wurden. Eine liberale Metaphysik, die (trotz der dialektischen Alternativlosigkeit der Demokratie) zum Scheitern verurteilt war – und es wahrscheinlich ist. Und dennoch; Fukuyamas Erbe muss es nicht sein. Denn obwohl die Weltgeschichte als komplexes und nicht greifbares Konstrukt nicht zwingend im Dienst der Demokratie stehen muss, kann sie es gleichwohl tun. Der Weltgeist, er determiniert nicht – der Weltgeist, c’est nous.

Fukuyamas Erbe liegt an uns. So resümierte auch er im erwähnten Artikel; dass die “liberale Demokratie kein Comeback erleben wird, bevor Menschen wieder bereit sind, für sie zu kämpfen”. Nicht zuletzt wird es an den Menschen liegen, für die Demokratie und liberale Werte Selbstverständlichkeiten geworden sind – was sie nicht sind. Es wird an uns liegen. Die mutigen Menschen in der Ukraine, im Iran, in Weißrussland oder Hongkong – all die Menschen die ihren Kampf um Anerkennung im Kleinen und Großen vorleben und dabei gegen autoritäre Systeme ihr Leben aufs Spiel setzen, sind beeindruckende Vorbilder.

Gleichzeitig brauchen sie unsere Unterstützung. In Weißrussland und Hongkong zeugten die Bilder von Zehntausenden Demonstrierenden von gewaltiger Wut, gegen die Kraft des Autoritären reichte es aber nicht. Im Iran wird sich zeigen, ob demokratische Revolutionen in diesem Jahrhundert überhaupt noch eine Möglichkeit sind. Und doch offenbart sich in all diesen Beispielen eine globale Legitimationskrise des Autoritarismus. So auch in der Ukraine, die mit einer kaum fassbaren Stärke sich der Übermacht des russischen Militärs widersetzt. Und dabei auch oder gerade auf westliche Hilfe angewiesen ist.

Volodymyr Zelenskyy kann eine dieser Persönlichkeiten werden, die die Geschichte in eine entscheidende Richtung gelenkt haben und in dem sich die liberale Welt von Morgen spiegelt. Die beeindruckende Verteidigung in den letzten Monaten spricht eine deutliche Sprache. Ob aus ihm allerdings eine Inkarnation der Weltgeschichte wird – ein Weltgeist zu Pferde, wie Hegel einst den französischen Kaiser Napoleon nannte – wird zu großen Teilen von uns abhängen. Es wird von unserem, dem deutschen, europäischen und westlichen Willen abhängen, die Ukraine mit der entsprechenden Waffengewalt auszustatten. Ohne sein Pferd hätte Napoleon nicht die Geschichte treiben können und ohne westliche Panzer wird Präsident Zelenskyy keine liberale Geschichte schreiben. 

Wir tragen eine Verantwortung für die Geschichte. Wir können darüber entscheiden, ob Demokratie und Liberalismus zentrale Säulen dieses Jahrhunderts bleiben oder in sich zusammenbrechen und das Fundament für Jahrzehnte des Autoritarismus legen. Jede Wahl hat einen Einfluss auf die Zukunft der Demokratie – sei es in Brasilien oder den Midterms. In jedem von uns ist ein kleines Stück Geschichte, wie die belarussische Schriftstellerin Svetlana Alexievich nach dem zweiten Weltkrieg und dem Sieg über Nazi-Deutschland resümierte. Jede Waffe an die Ukraine, jeder Panzer oder Hubschrauber, entscheidet über unsere Zukunft.

Der Weltgeist liegt in den Weizenfeldern der Ukraine und wir können entscheiden, ob russische Panzer oder deutsche Leoparden die ukrainische Steppe besiedeln. Die Ukraine kämpft nicht nur für sich – sie kämpft für eine liberale Weltgeschichte.

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