Als ich vor einigen Wochen begann, an diesem Essay zu schreiben, war der Rückzug der Vereinigten Staaten aus Afghanistan schon lange beschlossene Sache. Fehlender Rückhalt in der amerikanischen Bevölkerung und eine Fokussierung auf den indo-pazifischen Raum im Zuge des sich zuspitzenden Systemkonflikts mit China: Mehrere Gründe bedingen das abnehmende Interesse der USA für den Nahen Osten. An der bereits unter Donald Trump getroffenen Entscheidung, änderte sich so unter dem neuen Präsidenten Joe Biden nichts mehr. Auch der Truppenabzug der NATO-Juniorpartner, wie Deutschland, war absehbar.
Was nicht abzusehen war, war in welch desaströser Art und Weise der Abzug vollzogen wurde. Präsident Steinmeier sprach von einer “menschlichen Tragödie”, eine fast schon euphemistische Beschreibung der Geschehnisse. Junge Frauen, die ihre Diplome verbrennen, Afghanen, die ihre ausländischen Handykontakte löschen und Menschenmassen, die zum Flughafen als letzter Rettung drängen – sie eint die Furcht vor den Steinzeit-Islamisten der Taliban, die ohne Gegenwehr in die Hauptstadt Kabul einmarschieren. Von der Angst getriebene Männer, die sich an startenden Flugzeugen festklammern und in den Tod stürzen, treiben die ganze Dramatik auf die Spitze und komplementieren “unseren” Saigon-Moment.
Falsche Abhängigkeiten
Dabei ist die Situation in Afghanistan nur ein Beispiel von vielen, die mich zu der These dieses Textes führen, dass die Europäische Union sich schwer tut, ihren Platz in einer veränderten Welt zu finden. Wo stehen wir, mit wem stehen wir und wie lange noch? Marion Gräfin Dönhoffs “zwischen-allen-Stühlen”-Analogie wäre wohl eine gelungene Lagebeschreibung, was in diesem Fall aber in keinster Weise positiv gemeint ist.
Wenn nach dem abrupten Ende der amerikanischen Hegemonialstellung in Afghanistan viel über die neue Rolle von Russland und China (ebenso wie von Pakistan, dem Iran und der Türkei), und wenig über die mögliche Stellung der EU geschrieben wird, ist das nur folgerichtig. Die Europäische Union hatte nur einen Plan für den Nahen Osten, der mittlerweile keiner mehr ist, und lautete, der amerikanischen Führung zu folgen. Was Angela Merkel vor einigen Tagen so wörtlich bestätigte, ist schon deswegen absurd, weil die Lage in Afghanistan für die USA und die EU von unterschiedlichem strategischen Interesse ist. Flüchtlingswellen treffen die Vereinigten Staaten nicht und die Gefahr, die von einer neuen islamistischen Terrormiliz ausgehen könnte, ist für Europa besonders groß.
Dass sich europäische Führungskräfte wie Ursula von der Leyen viel zu spät äußerten, passt ins Bild einer außenpolitisch blanken EU. Dass der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, der sonst immer wieder eine autonomere Rolle der EU forderte, zunächst aber die Abwehr von Migrationsströmen aus Afghanistan als Ziel seiner Agenda verkündete, macht es auch nicht besser. Auf kurze oder lange Sicht wird das entstandene Machtvakuum von anderen Großmächten gefüllt, die Europäische Union aufgrund von Migrationsfragen abhängiger von der Türkei, und Russland und China, die ihre Botschaften in Kabul nicht räumten, geopolitisch stärker.
Apropos China. Was ich mit zwischen den Stühlen sitzen meine, zeigt sich auch an den europäisch-chinesischen und dabei primär den deutsch-chinesischen Beziehungen. Während man sich im Nahen Osten (durch die NATO) an die USA bindet, und eigene Strategien und Perspektiven vermissen lässt, bindet man sich wirtschaftlich immer stärker an die chinesische Volksrepublik und vernachlässigt dabei den aufkommenden Systemwettbewerb, dem man nur in transatlantischer Zusammenarbeit etwas entgegensetzen könnte.
Das europäische Außenpolitik-Problem ist überwiegend ein deutsches Problem. Deutschland versteht sich als neutrale Kraft, die mit allen immer irgendwie zurecht kommen möchte. Eine historisch -verständliche, aber nicht mehr zeitgemäße pazifistische Grundeinstellung mit einer schwachen Armee als Folge, eine von China -abhängige Wirtschaft und eine dauer-präsente Russlandkuschelei ergänzen das Bild. Deutschlands notwendige Führungsrolle in der Europäischen Union macht das deutsche Problem zum europäischen Problem. Und meine These, dass die EU ihren Platz in der sich verändernden Welt nicht findet, ist auch darauf zurückzuführen, dass Deutschland seinen Platz sucht. Auf der Gewinnerseite möchten Deutsche sitzen, mit wem, ist scheinbar sekundär.
Ambivalente Solidarität
Dabei ist es keinesfalls so, dass europäische Partnerschaft und Solidarität für die deutsche Politik keine Rolle spielt. Das im vergangenen Spätsommer beschlossene, 750 Milliarden Euro schwere, Corona-Hilfspaket spricht eine eindeutige Sprache. Auch bei Mitgliedsbeiträgen ist Deutschland pro Kopf der zweitgrößte, in absoluten Zahlen der größte Nettozahler und im monetären Sinne das Rückgrat des europäischen Systems.
Werfen wir allerdings einen Blick auf den größten Empfänger (pro Kopf) der Mitgliedstaaten, Estland, so zeigt sich die Ambivalenz der deutschen Solidarität. Deutschlands Haushaltssalden, die offensichtlich im estnischen Interesse liegen, steht das unverständliche Commitment zur russischen Gaspipeline Nordstream-2 gegenüber, die die Bundesrepublik trotz baltischem Entsetzen und entgegen europäischen Beschlüssen durchdrücken möchte. Deutsche Politik ist oft europäisch, aber nur wenn es unseren wirtschaftlichen Interessen dient. Der Europäische Aufbauplan und hohe Mitgliedsbeiträge, die den Zusammenhalt der EU und die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Staaten sichern, liegen im Interesse der deutschen Exportwirtschaft. Eine Pipeline nach Russland oder ein neues Freihandelsabkommen mit China allerdings auch.
Jetzt könnte man einwenden, dass das Handeln anderer europäische Länder oft ebenso durch wirtschaftliches Selbstinteresse bestimmt ist. Dieser Einwand hat seine Berechtigung. Der Sanofi-Impfstoff-Kauf, mit direkter oder indirekter Anweisung von Präsident Macron, war nichts anderes als französische Industriepolitik, schlechte Industriepolitik. Frankreich und Deutschland müssen beide, sofern sie die Europäische Union reformieren wollen, ihre nationalen Interessen mit europäischen Interessen in Einklang bringen.
Versuchungen des Autoritarismus
Eine Reform kann es aber nur geben – und hier kommen wir zurück zu meiner Ursprungs-These – wenn die EU für sich entschieden hat, was ihr Platz in der Welt ist. Bei einer Zuschauerrolle, bei der man von der Tribüne aus mit Popcorn auf die Leinwand der vorbeiziehenden Weltgeschichte starrt, kann es nicht bleiben. Aktivere Entscheidungen sind gefragt. Welche Werte sollen die veränderte Welt des 21. Jahrhunderts bestimmen? Wie lassen sich diese Werte verteidigen und durchsetzen? Mit welchen Partnern kann man diese Werte verteidigen und durchsetzen?
Schon die Beantwortung der ersten Frage, offenbart erste innereuropäische Ungereimtheiten. Grundsätzlich müsste hierauf immer mit den Grundwerten der Europäischen Union geantwortet werden; “Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte”, kurzgesagt die Werte der liberalen Demokratie, verankert in Artikel 2 des Lissabonner Vertrags. Das Problem dabei: Bedingt durch den heranwachsenden Autoritarismus in Ungarn und Polen, verstrickt man sich als Europäer zunehmend in Widersprüche.
Viktor Orbán macht keinen Hehl daraus, im Emporsteigen des chinesischen Systems auf die Weltbühne, eine überlegene Alternative zur westlichen Demokratie zu sehen. In Polen wird durch Pressezensur, Minderheitenunterdrückung und Beschränkungen der Judikative ein ähnlicher Weg gegangen. Lässt sich Emmanuel Macrons Vision einer neuen europäischen Rolle in der Welt glaubwürdig vertreten, wenn man innereuropäisch von den Versuchungen des Autoritarismus zerfressen wird?
Vielleicht ist es notwendig, das eine in Bezug zum anderen zu setzen. Vielleicht ist der heranwachsende Autoritarismus in Europa durch die Orientierungslosigkeit des Westens bedingt. In Zeiten des Umbruchs, in denen die Weltordnung neu austariert wird, wird der Wunsch nach einer klaren Positionierung stärker. Und während die Europäische Union nicht weiß, wo sie stehen möchte, reichen autoritäre Großmächte, allen voran China, unsicheren Nationen die Hand. Im metaphorischen Sinne könnte man sagen, dass Europa nach einem passenden Zimmer sucht, im Weltgebäude, das China zu kernsanieren versucht.
Neue Koordinaten am Himmel
Doch gibt es im 21. Jahrhundert, in einer G-Null-Welt (Ian Bremmer), überhaupt so etwas wie Orientierung? Folgt auf das “amerikanische Jahrhundert” wirklich ein “chinesisches Jahrhundert”? Steht uns, wie Ralf Dahrendorf in den 90er Jahren befürchtete, ein “Jahrhundert des Autoritarismus” bevor oder muss von einer instabilen Epoche der Multipolarität gesprochen werden – einer geopolitischen Art der Anarchie?
Meine Antwort hierauf kann nur popperianischer Art sein: Es liegt an uns. Es liegt an der EU und westlichen Demokratien. Wenn der portugiesische Autor Bruno Macaes von einem “End-of-End-of-History” spricht, meint er den Beginn einer neuen Geschichte. Für Liberale ist das keine schöne Vorstellung, ist die neue Geschichte doch ein Bruch der abgeschlossenen Geschichte, die den liberalen Konsensus nach dem Fall des eisernen Vorhangs zu zementieren versuchte. Es ist aber auch ein Weckruf, der uns klar macht, dass wir für unsere Werte wieder einstehen müssen.
Der Aufbruch in ein neues Zeitalter bedeutet nicht, dass die Sterne vom Himmel fallen. Auf dem offenen Meer der Globalisierung, die alles in Bewegung versetzt, sind die Koordinaten in der Bläue des Äthers weiterhin erkennbar. Die Werte der Aufklärung, Demokratie und Freiheit als Hoffnungsträger für Millionen von Menschen. Auch die USA sind nicht von der Weltbühne verschwunden, auch wenn aus mancher Perspektiver Wolken die Sicht vernebeln.
Wir werden auch eigene Satelliten ins All schießen müssen, um im übertragenen Sinne bei meiner (zu groß geratenen) Metapher zu bleiben, die uns langfristig verlässliche Orientierung bieten. Ich rede von neuen Partnerschaften und Institutionen. Vertiefte (Handels-)Partnerschaften im Indo-Pazifik mit Ländern wie Indien, Japan, Australien oder Vietnam, als Gegengewicht zum chinesischen Autoritarismus, wären ein Anfang. Auf institutioneller Ebene hatte Emmanuel Macron bei verteidigungs- und migrationspolitischen Fragen interessante Reformvorschläge gemacht, bei denen es auf die deutsch-französische Führung ankommen wird.
Die EU muss eigenständiger werden und zugleich enger mit westlichen Verbündeten zusammenarbeiten, in und außerhalb der NATO. In Osteuropa und im Nahen Osten werden wir stärker Verantwortung übernehmen müssen und sind in diesem Sinne auf mehr hard power angewiesen, was die deutsche Politik bislang zu ignorieren versucht. Ebenso muss sich Deutschland von seiner Außenhandelspolitik verabschieden und Außenpolitik zum Primat der Politik machen, um Blindspots gegenüber China zu begrenzen und so Alternativen abseits des chinesischen Absatzmarktes zu öffnen.
Das sind nur erste vage Vorschläge – wichtig ist es, einen langfristigen Plan zu verfolgen, um unseren Platz in der Welt einzunehmen. Auf die Europäische Union wird es ankommen müssen, wenn die liberale Demokratie in der neuen Geschichte eine Rolle spielen soll.