“Mit einem neuen Jahrhundert ist es wie mit einem neuen Roman. Man muss den Mut haben, damit anzufangen”, schrieb der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch im Jahre 1999 mit dem 21. Jahrhundert vor Augen. 23 Jahre später ist die Ukraine Opfer eines brutalen Angriffskrieges Vladimir Putins. 23 Jahre später sterben in Mariupol tausende Zivilisten. 23 Jahre später steht die Zukunft eines hoffnungsvollen Landes in Sternen und Ruinen.
23 Jahre später und Deutschland ist im 21. Jahrhundert angekommen. „Zeitenwende“ – ein großes Wort, das Bundeskanzler Olaf Scholz in einer bemerkenswerten Rede im Bundestag ausrief. Überall ist es nun zu hören, wenn in großen Zeitungen in aller Welt mit Zuversicht über das neue deutsche Selbstverständnis geschrieben wird. „Zeitenwende“ ist aber auch ein Wort, an dessen Buchstaben das Blut klebt. Erst mussten Ukrainer sterben, bevor sich Deutschland Gedanken über die eigene Rolle in der Welt machte.
Sich über die eigene Rolle in der Welt Gedanken zu machen bedeutet, mehr Verantwortung zu übernehmen: für sich selbst, für Europa, für alle Partner in Osteuropa. Viel wurde angekündigt: 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr, mehr als die Einhaltung des 2%-Ziels der NATO, Drohnenbeschaffung und eine Armee, die in allen Bereichen mithalten kann – ein abrupter Bruch mit Traditionen deutscher Sicherheitspolitik. Deutschland ist erwachsen geworden und die Welt, in der es sozialisiert wurde, schon lange eine andere.
Dass innerhalb so kurzer Zeit eine neue Wirklichkeit deutscher Sicherheitspolitik geschaffen wurde, die in den nächsten Jahren hunderte Milliarden Euro in Anspruch nehmen wird, sollte in dieser Radikalität nicht überraschen. Deutschland hat ein Jahrhundert aufzuholen. Wenn Olaf Scholz also davon spricht, dass der 24. Februar eine “Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents” sei, meint er eigentlich, dass es eine Zeitenwende für Deutschland ist. Nicht erst Albrecht von Lucke stellte fest, dass die “Welt in ihren Ansätzen schon davor so war“ …und in ihren Ansätzen erst durch Deutschlands Untätigkeit so werden konnte, müsste man hinzufügen.
Daniel Hornuff spricht in der Zeit von einem “rhetorischen Schutzschild”, weil der Begriff „Zeitenwende“ kaschiere, dass der russische Angriffskrieg keineswegs eine Überraschung ist. Das stimmt: Während Experten seit Jahren vor nun zum Vorschein kommenden Tendenzen warnten, hatte sich die deutsche Politik unlängst in einen außenpolitischen Dornröschenschlaf begeben, der die Forderung einer proaktiveren Politik zum Hintergrundrauschen degradierte.
Dennoch, der Begriff Zeitenwende ist ein passender, denn wie kein Zweiter steht er dafür, dass Deutschland erst jetzt im 21. Jahrhundert angekommen ist. Während Juri Andruchowytsch und mit ihm viele Ukrainer mit skeptischer Zuversicht auf das neue Jahrhundert am Horizont blickten, hatte sich Deutschland in der Welt der 90er Jahre eingerichtet. Mehr Wachstum, mehr Demokratie, mehr Freiheit, weniger Krieg und Frieden für alle – Illusionen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, die hier noch immer bestehen. In Deutschland wurde nicht ans nächste Jahrhundert gedacht. In Deutschland dachte man, dass die Jahrhundertwende zum zweiten Mal in der Geschichte nach 1789 elf Jahre zu früh gekommen wäre. Kritische Stimmen eines Ralf Dahrendorf, der früh vor einem „autoritären Jahrhundert“ warnte, wurden dabei überhört.
In dem Deutschland also, in dem es Feuilleton-Tradition ist, sich monatlich über Francis Fukuyamas “Ende der Geschichte” lustig zu machen, hatte man es sich wie kein zweites Land am Ende des letzten Jahrhunderts gemütlich gemacht, sein Zelt aufgeschlagen und die am Sternenhimmel vorbeiziehende Weltgeschichte weitestgehend ignoriert. Aus dem Tagtraum erwacht, blickt Deutschland nun auf all das, was in den letzten Jahrzehnten gekonnt ignoriert wurde. Wenn Constanze Stelzenmüller im Economist richtigerweise feststellt, dass Deutschland seine Sicherheit in die USA, seine Energiebedürfnisse nach Russland und sein exportbasiertes Wachstum nach China outgesourced habe, ist auch das die Folge eines illusionär-postsowjetischen Denkens der 90er Jahre. Der Geist der Vergangenheit, der das deutsche Denken bis zum 24. Februar prägte.
Deutschlands Zeitenwende ist deswegen auch eine Zeitenwende im Geiste. Plötzlich gibt es eine klare Unterstützung innerhalb der Gesellschaft für eine starke, gut ausgerüstete Armee, hinter den Plänen des Bundeskanzlers steht eine überwältigende Mehrheit der Menschen in diesem Land. Plötzlich wird sich wieder mit Außenpolitik beschäftigt, eine realistischere Einschätzung der Weltlage findet Anklang und der deutsche Sonderweg des Pazifismus verschwindet aus den Köpfen. Putin hat den Krieg nach Europa gebracht. Und obwohl er territorial von Verhältnissen des letzten Jahrhunderts träumt, hat er dabei die letzten Reste des 20. Jahrhunderts endgültig eingerissen.
Aber nun sind wir da, endlich angekommen im 21. Jahrhundert. Der vorgebrachte Vergleich, dass der russische Angriffskrieg das 9/11 Deutschlands sei, behält in seiner Absurdität ein Fünkchen Wahrheit in sich. Denn Fakt ist: Ein Großteil aller Nationen hat vor Deutschland mit den Illusionen der 90er gebrochen. In den USA begann dieses Jahrhundert 2001, in Frankreich spätestens am 7. Januar 2015 mit dem Terroranschlag auf die Charlie-Hebdo-Redaktion und in all den hoffnungsvollen, osteuropäischen Staaten ohnehin ohne Verzögerung nach dem Zerfall der Sowjetunion. Für viele ist ein neues Jahrhundert eine neue Chance, so aber auch für die autoritären Regime dieser Erde, die von einer neuen geopolitischen Landschaft träumen. Nicht ohne Grund wird heute vor einem „chinesischen Jahrhundert“gewarnt. Auch für Russland bietet dieses Jahrhundert die Chance, aus Neuem Altes zu machen.
Klar ist, das Spiel mit Jahrhunderten sollte nicht überhöht werden. Auch Jahreszahlen sind letztlich nur leere Ziffern und einzelne Jahrhunderte in ihrer Dynamik in keinster Weise determiniert. Man könnte es also anders sagen: in Deutschland hat die Geschichte wieder begonnen. Nachdem Deutschland in den 90ern die Sanduhr der liberalen Ordnung umdrehte, und so 30 Jahre auf Kosten der Zeit, oder anders gesagt auf Kosten der liberalen Ordnung lebte, ist der Zeitpunkt der Zäsur gekommen.
Weil in Deutschland die Geschichte wieder begonnen hat, muss auch unsere Einstellung zu unserer Geschichte neu evaluiert werden. Ein aus dem kalten Krieg stammendes Verständnis, das den bundesrepublikanischen Pazifismus aus unserer geschichtlichen Verantwortung herleitet, wurde durch den Fall des Eisernen Vorhangs und die Illusionen eines dauerhaften Friedens ohne Preis verstärkt. Nein, aus unserer Geschichte leitet sich kein naiver Pazifismus ab. Der Verweis auf den Zweiten Weltkrieg läuft schon deswegen ins Leere, weil es unsere Nachbarn und europäischen Freunde sind, die in den Kriegen des letzten Jahrhunderts unter dem deutschen Expansionismus litten und heute eine aktivere und verantwortungsbewusstere Sicherheitspolitik Deutschlands einfordern. Und nein, die Illusion, dass das Zeitalter eines ewigen Friedens angebrochen sei, verkennt die Logik der Geschichte und hat dazu geführt, dass Deutschland die Voraussetzungen für den Frieden in den letzten zwei Jahrzehnten weitestgehend ignorierte.
Die Geschichte kennt keine Pause. Der Versuch, sie zu ignorieren, ist weniger brutal, aber ähnlich gefährlich wie der Versuch, sie zu zähmen. Die Weltgeschichte rennt immer voraus, kennt kein Ziel und lässt sich in kein Schema pressen – panta rhei, alles fließt. Was wir aber tun können und müssen, ist versuchen, sie in eine Richtung zu bewegen. In unsere Richtung. Die liberale Ordnung ist nur so stark wie ihre Verteidiger. Die mutigen Menschen in der Ukraine führen uns das mehr denn je vor Augen.