Der aktive Staatsbürger

Das dialektische Wechselspiel der öffentlichen Auseinandersetzung als eine Form des kultivierten Meinungsstreits zu begreifen und dafür zu kämpfen, dass er nicht zu einem zerstörerischen Streit verkommt, ist die Aufgabe des aktiven Staatsbürgers.

Populismus, Hetze und Demagogie: Die erste Presidential Debate am 29. September war das Abbild einer Verrohung des politischen Diskurses. Ein amerikanischer Präsident, dessen einzige, so simple wie effiziente Methode das massenhafte Verbreiten von Lügen ist und der offen demokratische Errungenschaften und Anstand missachtet – dass ein solcher Mann das wichtigste Amt der Welt besetzt zeigt, wie weit diese Verrohung schon fortgeschritten ist.

Wie ein schleichendes Gift zerstört sie zivilisatorische Umgangsformen, sprengt Brücken und schafft ein Klima der Zerstörung, das zur Gefahr für die offene Gesellschaft wird. Dieses Klima hat Risse und Spalten zur Folge, die durch die gesamte Bevölkerung gehen. Aus nuancierten Grautönen wird Schwarz und Weiß. Aus Mitstreiter und Gegner wird ein dogmatisiertes “Freund-und-Feind” Denken. Und die Leerstelle zwischen “gut” und “böse” wird immer größer. 

Die beschriebenen Tendenzen haben Aufwind, nicht erst seit der Wahl Trumps, sie sind aber nicht unaufhaltsam. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, ist Aktivität und Anstand zugleich gefordert. Was meine ich damit? Wir müssen aktiv die Auseinandersetzung suchen und gleichzeitig den Minimalkonsens des gegenseitigen Respekts betonen. Integrität, Mut und Anstand gemischt mit Streitlust und der Liebe zum Dissens, all das sind Tugenden der, wie ich sie nennen möchte, aktiven Staatsbürger.

John McCain, eine prägende Gestalt der amerikanischen Politik, war ein solcher aktiver Staatsbürger. McCain war ein aufrechter Demokrat, eine amerikanische Größe, ein Brückenbauer, der auch als Republikaner gute Freundschaften mit Demokraten wie Joe Biden pflegte. Die Integrität, sich gegen Donald Trump und die “Trumpisierung” seiner Republikanischen Partei, für die er noch 2008 als Präsidentschaftskandidat antrat, zu stellen, muss man ihm hoch anrechnen. Seine Beerdigung im September 2018 war ein Symbol des toleranten Amerika, oder wie seine Tochter Meghan McCain im direkten Bezug auf die Spaltungsrhetorik Trumps treffend feststellte: “Das Amerika John McCains hat es nicht nötig, wieder groß gemacht zu werden, weil Amerika immer groß war.“ 1

Allerdings ist es ein ganz anderer Moment, der mich davon überzeugt hat, McCain hier als Paradebeispiels des aktiven Staatsbürgers aufzuführen, und zwar sein Wahlkampfauftritt McCains am 10. Oktober 2008. Während dieser Veranstaltung antwortete er auf die Aussage einer Frau, dass sie Obama nicht vertrauen könne und dass er ein Araber sei, folgendes: 

“He’s a decent family man, citizen that I just happen to have disagreements with on fundamental issues.”

Es ist dieser Respekt vor dem politischen Gegner, den ich bei McCain so bewundere, und der ihn so fundamental von dem momentanen Präsidenten unterscheidet. Die Einsicht, dass Meinungsverschiedenheiten durchaus fruchtbar sind, aber nur solange, wie sie in einem Rahmen der gegenseitigen Achtung ausgetragen werden, sodass aus Gegnern nicht Feinde werden. Für den Diskurs zu leben heißt, mit dem Dissens zu leben und jedem das “Recht” auf Dissens einzuräumen.

Starke Meinungen sind wichtig, harte Widerrede ist wichtig und beides elementar für eine lebhafte Auseinandersetzung. Wenn ein schleimiges Harmonie-Ideal den Diskurs bestimmt und alle Teilnehmer unter diesem erdrosselt werden, ist die Unfreiheit nicht mehr weit. Das dialektische Wechselspiel der öffentlichen Auseinandersetzung als eine Form des kultivierten Meinungsstreits zu begreifen und dafür zu kämpfen, dass er nicht zu einem zerstörerischen Streit verkommt, ist die Aufgabe des aktiven Staatsbürgers. 

Der aktive Staatsbürger weiß, dass er niemals im Besitz der letzten vollkommenen Wahrheit sein wird, und doch ist er immer auf der Suche danach. Er weiß, dass sein geistiges Schloss der Erkenntnis nur wachsen kann, wenn verstaubte Türme der alten Erkenntnis eingerissen werden und durch höhere und solidere Türme der neuen Erkenntnis ersetzt werden. Die Wahrheit von heute ist womöglich der Irrtum von morgen, im ewigen Pfad der Erkenntnis wird man immer neue Irrtümer hinter sich lassen. 

Aus diesem Bewusstsein leitet sich für den aktiven Staatsbürger ab, dass er immer neue Wege gehen muss, um sein Schloss der Erkenntnis stetig zu überprüfen. Oder anders gesagt, er muss sich aus seiner eigenen Peer Group entfernen, um den Konflikt mit anderen Ansichten zu suchen, was wiederum dazu führt, dass er seine eigene Meinung jedes Mal neu hinterfragen muss. Der aktive Staatsbürger kennt die Gefahr der Kollektivierung, er weiß, wie schnell ein übergreifender Korpsgeist die eigene Wahrnehmung vernebelt und den Verlust der Autonomie zur Folge hat. Oder wie Adorno es passend formulierte: “Menschen, die blind in Kollektive sich einordnen, […], löschen sich als selbstbestimmte Wesen aus.” 2

Um dem vorzubeugen muss er sich aus jedem Kollektiv befreien, das ihm ein gefährliches “Freund und Feind”-Denken auferlegt. Kollektive sind, sofern sie Angepasstheit einfordern, für ihn ohnehin uninteressant. Der Weg der neuen Erkenntnis kann nur der Weg der Auseinandersetzung sein. Das bedeutet für den aktiven Staatsbürger, dass er sich Verbündete im gesamten demokratischen Spektrum sucht, durch den gemeinsamen Nenners des gegenseitigen Respekts. Wer sich nur in “Safe Spaces” aufhält und den Konflikt mit anderen Ansichten scheut, wird sich zwar in seiner Meinung bestätigt fühlen (Ideologisierung), gesellschaftlichen Fortschritt und persönliche Erkenntnisgewinne wird er damit aber nicht erreichen. 

Der Weg der Auseinandersetzung ist nicht immer angenehm. Manchmal ist es auch nötig, den Austausch mit Mitmenschen zu suchen, deren Meinung man absolut nicht nachvollziehen kann. Aus diesem Grund möchte ich ein weiteres Beispiel für eine aktive Staatsbürgerin geben: Karoline Preisler. Preisler, die sich am Anfang der Corona-Krise mit dem Virus infizierte und ausführlich auf Twitter in ihrem Corona-Tagebuch über ihren Umgang mit der Infektion berichtete. Es war Karoline Preisler, die sich trotz (oder gerade wegen) ihrer negativen Erfahrungen dazu entschloss, das Gespräch mit “Corona-Kritikern” auf der Demo in Berlin zu suchen. Und auch wenn es durchaus anstrengend ist, möchte ich dennoch dafür plädieren, mit Verschwörungstheoretikern zu diskutieren. Wer die Verschwörungstheorien des Gegenübers als Vorwand nimmt, um nicht das Gespräch zu suchen, “vereitelt die Chance des guten Arguments, das schlechtere zu entzaubern”3, wie die Philosophin Marie-Luisa Frick es ausdrückt. 

Dies bedeutet allerdings nicht, dass ich hier auf uneingeschränkte Toleranz und einen schrankenlosen Diskurs anspiele. Nein, natürlich muss es klare Schranken geben und natürlich sollte man nicht mit jedem das Gespräch suchen. Um jetzt zu definieren, für wen die “Diskurs-Schranken” gelten, möchte ich mich an Karl Poppers Definition der Intoleranz orientieren. Intolerant ist nach Popper ein Mensch, der erstens einen rationalen Diskurs verweigert und/oder zweitens zur Gewalt gegen Andersdenkende aufruft oder diese ausübt. Die Schranken des Diskurses gelten also für die Intoleranten, deren Toleranz anhand ihrer Verhaltensweisen falsifiziert wird. Die Falsifikation ist allerdings, sofern wir die Meinung des Gegenübers nicht kennen, nur im Austausch möglich. Ein Beispiel dafür wäre das Verhalten Jens Spahns, der in Bergisch Gladbach nach einem Wahlkampfauftritt das Gespräch mit Demonstranten suchte und daraufhin von diesen beschimpft und bespuckt wurde, wodurch sie ihre Intoleranz bewiesen.

Die Intoleranten sind eine Gefahr für die offene Gesellschaft und sie sind natürlich auch eine Gefahr für den offenen Diskurs. Jetzt ist es allerdings so, dass es noch eine größere Gefahr gibt, und das sind die Populisten. Wobei die Intoleranten eigentlich immer zu Populismus neigen, was wiederum durchaus plausibel ist. Denn nur eine gespaltene Gesellschaft ist ein fruchtbarer Boden für ein mehrheitsfähiges intolerantes Gedankengut. Der Populist lebt davon, die Gesellschaft zu polarisieren. Er lebt davon, ein dogmatisches Gedankengut zu predigen, dass nur schwarz und weiß, gut und böse, Freund und Feind kennt. 

Der Populist ist ein “Agent der Unmündigkeit”4. Die Kombination aus Opferrolle und Verschwörungstheorien wird zu einem Mittel der Verführung, das von seiner Einfachheit lebt. Es ist immer die Schuld der Mächtigen, der Elite, der Medien, der Regierung, des Zeitgeistes, der Sozialisten, der Neoliberalen, komplexe Antworten kommen nicht in Frage. Populisten inszenieren sich als Heilsbringer, als Aufklärer im Kampf gegen die “Mächtigen”, gegen George Soros “Umvolkung”, gegen Bill Gates “Mikrochips-Einpflanzung” oder gegen eine (meistens jüdische) kapitalistische Elite, die die Welt kontrolliert. Für ihre Anhänger werden sie zu Vertretern der Unterdrückten, zum Beschützern vor dem Bösen. Und so generieren sie einen “Mythos der Unantastbarkeit”5, auch Führerkult genannt. 

Der Populist ist der direkte Widersacher des aktiven Staatsbürgers, weil ihm nichts an einem fairen Meinungsstreit liegt. Das Predigen einer absoluten Wahrheit und die Verengung der Meinungen auf “richtig” und “falsch” stehen seinen Werten diametral gegenüber. Der aktive Staatsbürger muss es schaffen, die Gefahr des Populismus so klein wie möglich zu halten und dafür möchte ich zwei Punkte vorschlagen.

Punkt 1: Populisten wollen gehört werden, sei es durch Tabubrüche, Beleidigungen oder krude Verschwörungstheorien. Das größte Geschenk, das man ihnen machen kann, ist über ihr Stöckchen zu springen und ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Hier ist jeder gefordert: Twitternutzer, Politiker und Zeitschriften. Ignoranz ist der erste einfache Schritt, der dem Populisten seine Reichweite nimmt. 

Punkt 2: Die Themen der Populisten dürfen nicht gemieden werden, sondern müssen in einem offenen Diskurs ausgetragen werden. Nur so kann man verhindern, dass Populisten daraus Profit schlagen. Ralf Dahrendorf schrieb in seiner klugen Analyse zum Populismus6 dazu: “Es ist nicht nötig, die heikle Tagesordnung der öffentlichen Debatte denen zu überlassen, die daraus demagogisches Kapital schlagen wollen.”  

Populismus ist ein zu breites und komplexes Thema, das einen eigenen Artikel benötigen würde, um es noch weiter auszuführen. Zum Abschluss möchte ich nun noch einmal zur Toleranz zurückkommen, der wichtigsten Tugend des aktiven Staatsbürgers. Wenn wir wissen, dass es nicht eine Antwort auf unsere Probleme gibt. Wenn wir wissen, dass unsere Wahrheiten womöglich im Konflikt mit anderen Wahrheiten stehen und es gleichzeitig keine absoluten Wahrheiten geben kann. Dann ist es unsere Pflicht tolerant zu sein. Sind wir es nicht, wird der potenzielle Irrtum einer vermeintlichen Wahrheit zur Gefahr. Nur wenn es möglich ist, sich zu irren und sich anschließend zu korrigieren, kann man die eigene Erkenntnis erweitern. Nichts ist wertvoller als der Austausch, der Dialog, der Streit mit anderen Meinungen und es ist die Aufgabe von uns allen, diesen offen auszutragen. 

  1. https://www.faz.net/aktuell/politik/meghan-mccains-seitenhieb-gegen-trump-15766755[]
  2. Poschardt, U. (2020). Mündig (German Edition) (1. Aufl.). Klett-Cotta.[]
  3. Marie-Luisa Frick (2020). Liberal – Das Magazin für die Freiheit (3). FNS[]
  4. Poschardt, U. (2020). Mündig (German Edition) (1. Aufl. Klett-Cotta.[]
  5. Giesa, C. (2020). Echte Helden, falsche Helden: Was Demokraten gegen Populisten stark macht Droemer.[]
  6. https://www.freiheit.org/liberalismus-dahrendorf-acht-anmerkungen-zum-populismus[]

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