Ein schwangerer Chirurg

[CONTRA-PART]: Ein Thema, zwei Meinungen!
Gendergerechte Sprache – ein Thema, das immer wieder heiß diskutiert wird. Unsere Redakteurin ist Anhängerin des Genderns – und erläutert, warum.

Stell dir einen Ärztekongress vor, auf dem sich, nach der Veranstaltung, drei Chirurgen treffen und einen trinken gehen. Einer der Chirurgen trinkt nicht mit, weil er im 3. Monat schwanger ist.

Wer beim Begriff “schwanger” irgendwie aufmerksamer wurde, sollte sich eingestehen, dass das generische Maskulinum für Verwirrung sorgen kann. Es ist ein tief verwurzeltes Sprachmuster, das laut einigen Sprachwissenschaftlern dazu führt, dass Männlichkeit nicht nur in der Außenwelt, sondern auch in unseren Köpfen überrepräsentiert ist.

Wir stellen uns sicher keinen weißen, alten Mann vor, wenn wir den Begriff “Chirurg” hören. Dafür haben wir keine Zeit, bevor wir schon die nächste Information verarbeiten müssen. Dennoch stellt sich die Frage, was sich in unserem Unterbewusstsein abspielt. In Sprachen, in denen Gegenstände als männlich oder weiblich klassifiziert sind, wurde herausgefunden, dass diese Klassifizierung tatsächlich Auswirkungen darauf hat, wie Menschen den Gegenstand wahrnehmen.

Als zum Beispiel deutsch und spanisch Sprechende gebeten wurden, einen Schlüssel zu beschreiben, der im Deutschen maskulin und im Spanischen feminin ist, spiegelten ihre Antworten einen deutlichen Unterschied wider. Deutschsprachige verwendeten Begriffe wie “gezackt”, “eckig”, “hart” und “Metall”. Spanisch Sprechende dagegen verwendeten mehr Begriffe wie “klein”, “glänzend”, “golden” und “komplex”. Ob dies nun „männliche“ oder „weibliche“ Eigenschaften sind, sei dahingestellt. Bemerkenswert dabei ist jedoch, dass die Menschen glaubten, dieses zugeschriebene, konstruierte Geschlecht sage tatsächlich etwas über das Objekt aus.

„Man kann die Wirklichkeit nicht ändern, indem man die Sprache ändert.“

Das behauptet der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch, von der Freien Universität Berlin. Aber stimmt das?

Aufbauend auf der Sapir-Whorf-Hypothese können wir davon ausgehen, dass es nichts gibt, worüber wir Menschen nicht sprechen können, und so prägt die Sprache auch die Art und Weise, wie wir über Objekte, Beobachtungen oder Erfahrungen denken. Formt die Sprache also das Bewusstsein, so schafft sie auch neue Realitäten, wenn sie anders verwendet wird. Die Idee, dass Sprachunterschiede die Kognition beeinflussen, ist an sich jahrhundertealt. Sie wird bereits in Platons Dialog mit Kratylus behandelt und ist seither ein wiederkehrendes Thema in der Sprachphilosophie; in Deutschland wurde sie vor allem von Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) und Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835) propagiert. Seit den 1930er Jahren wird sie oft den amerikanischen Sprachwissenschaftlern Edward Sapir (1884 – 1939) und Benjamin Lee Whorf (1897 – 1941) zugeschrieben. Die Sprache beeinflusst das Denken durch die Information, die durch sie übermittelt wird – und da wir einen Großteil unseres Wissens nicht durch eigene Anschauung erlangen, sondern dadurch, dass es uns mitgeteilt wird, kann Sprache selbstverständlich auch unsere Realität formen.

Dementsprechend kann auch das grammatikalische Geschlecht prägen, wie Menschen die Welt um sich herum auf der Grundlage von Geschlechterrollen interpretieren.1 Folglich kann es auch Auswirkungen auf die Geschlechterbeziehungen und den relativen Status von Männern und Frauen haben. Das ist auch einer der Gründe, weshalb uns ein „schwangerer Chirurg“ auf den ersten Blick verwirrt – das Thema Transmänner mache ich an dieser Stelle nicht auf, das würde den Rahmen des Artikels sprengen.

Das Problem der Lesbarkeit

Binnen-I, Unterstrich, Gendersternchen. Ja, was denn nun? Da sind sich nicht einmal Feminist:innen einig. Unterstrich und Gendersternchen werden immer seltener genutzt. Die meisten Schreibweisen wurden ersetzt: durch den Doppelpunkt.

Das hat sowohl typografische als auch inklusive Gründe. Der Doppelpunkt ist uns zum einen geläufiger als ein Unterstrich oder ein Sternchen mitten im Satz, zum anderen reißt er keine große Lücke in das Wort. „Liebe Leser*innen“ oder „Liebe Leser:innen“ stellt einen gewaltigen Unterschied im Lesefluss dar, den man vor allem bei langen Texten bemerkt. Der Hintergrund dafür ist typografischer Natur, denn der Doppelpunkt liegt auf gleicher Höhe wie die restlichen Kleinbuchstaben. Der Genderstern hingegen lenkt das Augenmerk in der Wortmitte nach oben. Ein Ausriss, der nervig sein kann. Kein Wunder also, dass hier der Doppelpunkt langsam, aber sicher das Rennen gewinnt.

Des Weiteren muss ein Zeichen her, dass inklusiver ist als nur das Binnen-I oder der Unterstrich. Das Gendersternchen dient als Art „Fußnote“, in der alle Gender vertreten sein sollen. Das Binnen-I meint nur Mann und Frau. Den Doppelpunkt kennen wir unter anderem als Aufzählungszeichen. Man sagt, „es gibt folgende Optionen: X, Y, Z.“ Nichts anderes stellt auch der Doppelpunkt innerhalb eines Wortes dar. Er zählt neben dem weiblichen Geschlecht alle auf, die mitgemeint sein möchten.

Schönheit liegt im Auge des Betrachters

– aber auch die ändert sich stetig.

Sprache hat sich im Laufe der Zeit schon immer verändert – und wer nun behauptet, diese Veränderung habe sich bisher immer natürlich ergeben und wurde nicht von einer Sprachpolizei „auferlegt“, der irrt sich. Ästhetisches Empfinden wurde in der Vergangenheit immer wieder von Rechtschreibreformen herausgefordert – und verändert.

Einige erinnern sich vielleicht an die Rechtschreibreform aus dem Jahr 1996, die Regeln hervorgebracht hatte, die gerne als „staatlich auferlegte Legasthenie“ bezeichnet wurde. In den 2000ern wurden einige dieser Regeln wieder revidiert – allerdings nicht vollständig, sondern so, dass man mehrere Schreibvarianten hatte. Schreibt man „weiter gehen“ nun zusammen oder auseinander? Richtig wäre nach heutiger Sicht beides. Diese Rechtschreibreform sorgt allerdings heute noch für Verwirrung.

Es wäre also nicht das erste Mal, dass eine Rechtschreibreform die Gesellschaft in einen Konflikt treibt. Dabei geht es bei den meisten Wörtern – damals wie heute – nicht einmal um einen nachweisbaren „Fehler“, sondern um ein Sprachbild, das ästhetisch nicht gefällt. Das „Nichtgefallen“ ist jedoch ein biologischer Reflex der Menschen, kein objektives Argument für oder gegen etwas. Nicht selten wird nur das Vertraute als schön empfunden. So wird kulturell und historisch gesehen meist das Fremde und Neue als hässlich und unerwünscht empfunden, oder gewinnt erst im Laufe der Zeit an “Schönheit”. Dies ist ein evolutionär bedingter Reflex zum Selbstschutz, keine objektivierbare Kategorie. Es wundert also nicht, dass viele Menschen aus dieser Generation die Gender-Doppelpunkte als hässlich und störend empfinden. In wenigen Jahren wird eine jüngere Generation das möglicherweise gänzlich anders wahrnehmen. 

In dieser Zeit kann man dem Unbehagen vieler aber auch etwas Gutes abgewinnen. So führt es zu weiteren Vorschlägen und neuen Versuchen. Vermutlich stehen wir hier erst am Anfang einer weitreichenden Sprachreform, und in ein paar Jahren werden wir auf Sternchen und Doppelpunkte zurückblicken wie die Luftfahrttechnik auf das Überschallflugzeug. Kein Nonsens, aber auch nicht the answer to everything.

Es lebe die Freiheit

Dieser Artikel ist kein Appell daran, dass wir nun alle privat gendern müssen. Gendern kann man nicht aufzwingen, aber eben auch nicht verbieten. Dieser „Unsinn“, wie ihn einige nennen, existiert, auch wenn man es nicht wahrhaben möchte. Die “Angst”, dass derartiges Schreiben „zum Gesetz“ werden könnte, ist unbegründet. Der einzige Ort, an dem Schreibfehler geahndet werden, sind Bildungseinrichtungen und die freie Wirtschaft.

Während der Rechtschreibreform 1996 wurden korrekte Schreibweisen, im schulischen Kontext, von heute auf morgen zu Fehlern. Das zog Probleme für Schüler:innen, Studenten:innen und Lehrer:innen nach sich. Auf Regeln gänzlich zu verzichten, also das „Schreiben nach Gehör“, stieß auf ähnlichen Protest in der Bevölkerung. Es wäre daher wohl egal, welche Veränderung man an der Sprache vornähme, es wäre generell nicht gerne gesehen. Was durchaus verständlich ist, denn ein ständiger Wandel bedeutet lebenslanges Anpassen. Das gefällt nicht jedem, erst recht nicht den Älteren, wenn sie hören dass ihre Kinder nun diesen „Schwachsinn“ in der Schule lernen. Verhindern lässt sich das nicht, lediglich für einen selbst, durch individuellen Trotz – oder einer generellen Debatte was die Benotung von “Fehlern” angeht.

In der Wirtschaft, wenn man nicht den Anforderungen der Arbeitgeber:innen nachkommt, kann es ebenfalls zum Verhängnis werden. Was ist wenn dieser seinen Angestellt:innen vorschreibt fortan zu gendern? Dieser Arbeitgeber kann selbstverständlich auch „der Staat“ sein. Das macht die Pflicht zum gendern jedoch nicht zu einem bösen, staatlichen Eingriff. Es kommt auch hier das von Liberalen häufig verwendete Argument zum Tragen: In Deutschland kann man sich seinen Job aussuchen. Wenn einem der Dresscode, die Kolleg:innen oder sonstige Anforderungen – wie die Notwendigkeit zu gendern – missfallen, kann man sich eine Stelle suchen, wo das nicht nötig ist.

Der Markt regelt.

  1. Boroditsky, L. (2009). How does our language shape the way we think? In M. Brockman (Ed.), What’s next? Dispatches on the future of science (pp. 116–129). New York: Vintage.[]

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