How You Cope with Covid

Die Pandemie macht uns allen das Leben schwer. Sie schafft für jeden von uns ganz individuelle Probleme und Konsequenzen – auch psychisch. Generelle Binnenweisheiten wie „Geh raus und mach Sport!“ bringen uns einfach nicht über den Berg. Ein weniger allgemeiner Lösungsvorschlag.

Damit wir etwas besser klar kommen, folgt dieser Artikel als Abstraktion und Interpretation des Grundbedürfnisfrustrationsmodells (nach Young, Brazelton/Greenspan und Grawe) und Teilen der Konsistenztheorie nach Grawe, um eigenständig rudimentäres Verständnis über frustrierte psychische Grundbedürfnisse zu gewinnen und zu helfen, etwaige maladaptive Schemata zu identifizieren und weniger dysfunktionale Bewältigungsmethoden zu etablieren. Auf gut deutsch: Wie sorgen wir dafür, dass es jedem von uns individuell in diesen schwierigen Zeiten besser geht?

Wir sind hungrig – wir essen.
Wir frieren – wir wärmen uns.

Unsere körperlichen Grundbedürfnisse weisen uns darauf hin, dass unser Körper leidet und langfristig Schaden nimmt, wenn sie lange unbefriedigt bleiben. Genauso leiden wir, wenn unsere psychischen Bedürfnisse lange nicht erfüllt werden. Schlimmstenfalls tragen wir langfristige Schäden davon. Leider hält uns die COVID-19 Pandemie häufig von der Erfüllung genau dieser Bedürfnisse ab. Dank der Umstände und Maßnahmen, die sie mit sich bringt, können wir viele Dinge, die wir gewohnt sind, ganz einfach nicht tun – Dinge, die sonst Teil unseres Alltags sind und uns Freude bereiten.

Diese Bedürfnisse lassen sich auf fünf Stück herunterbrechen1:

1. Bindung

Eltern, Partner, Freundschaften – wir alle brauchen beständige, liebevolle Beziehungen, Zugehörigkeit und ein Umfeld, das uns unterstützt. Wenn wir jemanden vermissen oder uns einsam fühlen ist unser Bedürfnis nach Bindung enttäuscht – in der Pandemie leider geradezu Alltag.

2. Autonomie

Neben Bindung haben wir aber auch alle das Bedürfnis nach Selbstständigkeit. Wir wollen eigenhändig etwas ändern können und Kontrolle über uns und unsere Umwelt haben. Üblicherweise ist die ganze Welt unser Spielplatz – egal ob wir reisen, nur etwas trinken gehen oder zur Arbeit fahren. Alles nicht so einfach gerade.

3. Selbstwert

Anerkennung anderer und unsere eigene Selbstachtung motivieren uns und bringen uns durch den Tag – und das ist auch völlig in Ordnung so! Doch die Pandemie macht vielem einen Strich durch die Rechnung, das wir sonst tun, um uns zu beweisen.

4. Entspannung

Spontanität und Freiheit machen uns glücklich – wir alle brauchen Abwechslung und Zerstreuung. Wir wollen „Unlust“ vermeiden. Leider finden Spaß, Freude, Genuss und Stimulation nun einmal häufig außerhalb der eigenen vier Wände statt – vielleicht sogar außerhalb Deutschlands, und sicherlich nicht in Isolation!

5. Struktur und Ordnung

Um unsere Bedürfnisse regelmäßig zu erfüllen, brauchen wir Struktur und Ordnung2 – sie bilden quasi ein eigenes Bedürfnis. Regeln und Grenzen in unserem (Sozial-)Leben machen die Ereignisse des Tages durchschaubar und vorhersehbar. Wir können planen, welche Bedürfnisse wir haben werden und was wir voraussichtlich zur Hand haben, um ihnen nachzukommen: Nach der Arbeit gehe ich ins Fitnessstudio und brauche Zerstreuung. Also nehme ich ein Buch mit.

Regeln erlauben uns, die Kontrolle über unser Leben zu übernehmen. Sie sind ein absolutes Grundbedürfnis, ein Teil unserer Identität. Leider sind Regeln wie „Verlass dein Haus nicht“ und „triff besser niemanden“ einfach zu viel des Guten. Die Pandemie schließt uns von Unmengen gewohnter Strukturen aus. Seit einem Jahr sind wir mit einer neuen, intensiven Palette an Bedürfnissen wie einem uns vorher unbekannten, intensiven Bedürfnis nach Abwechslung konfrontiert. Gleichzeitig ist unsere Palette an bekannten Lösungsmöglichkeiten drastisch reduziert.

Wir können festhalten: Sind unsere Grundbedürfnisse erfüllt, empfinden wir Freude und Glück. Empfinden wir Wut, Angst oder Trauer, kann das ein Zeichen für ein frustriertes Grundbedürfnis sein. Dabei haben diese Bedürfnisse für unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Situationen natürlich völlig unterschiedliches Gewicht und müssen jeweils miteinander austariert werden. Sie sind hoch individuell – und das ist völlig in Ordnung so. Der „Wert“ deiner Bedürfnisse hat nichts mit anderen zu tun! Wenn du mehr Nähe suchst oder mehr Selbstbestimmung brauchst als der Durchschnitt es deinem Gefühl nach tut, ist das kein Grund, deine Bedürfnisse weniger zu achten. Auch in der Pandemie ändert der Umstand, dass es fast allen ähnlich geht, nichts daran.

Werden unsere Grundbedürfnisse dauerhaft enttäuscht, verfallen wir schnell in Verhaltens- und Denkweisen, die vielleicht kurzzeitig Abhilfe schaffen, uns aber auf lange Sicht beeinträchtigen und schaden können. Räumliche Trennung kann Angst schüren und traurig machen. Kontrollverlust kann zu Wut führen; Isolation und die Hilflosigkeit, die diesen Reaktionen entspringt, zu Scham. Werden diese Emotionen zum ständigen Begleiter, kann es sein, dass wir beginnen, immer gleich zu reagieren. Auch wenn es eigentlich unangemessen ist.

Fight

So kann es sein, dass man auf Angst und Unsicherheit mit Aggression reagiert – eine verunsichernde, schwierig zu erklärende Pandemie zum Beispiel wird zur Weltverschwörung erklärt oder auf eine Demütigung mit Selbsterhöhung reagiert.

Flight

In anderen Situation setzt man dafür eher auf Vermeidung: Orte, Tätigkeiten und Situationen, die Angst machen, die schmerzvoll sind, werden aktiv gemieden. Eine andere Form der Vermeidung ist Ablenkung: Frust oder Zorn werden durch übermäßiges Arbeiten, ständige Beschäftigung ausgeblendet oder mit Alkohol betäubt – nicht umsonst ist der häusliche Alkoholkonsum in der Pandemie drastisch gestiegen.

Freeze

Wenn man nicht mehr die Energie hat, Negatives aktiv zu vermeiden, verbleibt nur noch Unterwerfung. Man ergibt sich der Situation und all den Emotionen, die sie mit sich bringt. Im persönlichen Konflikt gibt man bedingungslos nach und die eigenen Bedürfnisse auf. Kontaktangst nach langer Isolation wird als Grund zu weiterer Isolation genommen und führt zu mehr Einsamkeit. Isolation fördert außerdem missbräuchliches Verhalten, dem sich die Opfer häufig unterwerfen – im Anschluss an missbräuchliche Beziehungen werden sogar oft neue missbräuchliche Partner gesucht.

Klar kommen

Sicherlich kann sich jeder auf die eine oder andere Weise in diesen unbefriedigten Bedürfnissen und impulsiven Reaktionen wiederfinden. Und das ist in Ordnung so. Ab und zu ist es sinnvoll, ein Problem vielleicht zu vermeiden, um die Energie zu sammeln, es später in Angriff zu nehmen. Ab und zu braucht man vielleicht einfach ein wenig Selbsterhöhung, um sein Ego nach einer Enttäuschung wieder zu kitten. Und ab und zu kann man vielleicht nicht anders, als Unangenehmes erst einmal über sich ergehen zu lassen. Ein Abend über den Durst, einen Abend vielleicht etwas zu viel prahlen, sich einen Abend einfach mal dem Selbstmitleid hinzugeben – all das ist in Ordnung, solange es nicht zur Gewohnheit wird. Solange man sich bewusst dafür entscheidet und solange es keine neuen Probleme mit sich bringt.

Diese Bewältigungsstrategien sind nur kurzfristige Lösungen. Sie sind langfristig keine „erwachsenen“ Verhaltensweisen, mit unseren Problemen umzugehen, und dürfen dementsprechend nicht zur Routine werden. Wenn wir uns aber unserer psychischen Bedürfnisse bewusst sind, können wir die Kontrolle übernehmen. Wir können uns selbst besser verstehen: „Wie denke ich? Was brauche ich? Wie reagiere ich, und hilft mir das? Was wäre die erwachsene Art, damit umzugehen?“ Ja, die Pandemie erschwert vieles. Doch wenn wir verärgert sind, dass das Fitnessstudio zu ist (um beim Beispiel zu bleiben), sollten wir die Chance nutzen und überlegen: Welches meiner Bedürfnisse befriedige ich damit sonst eigentlich? Brauche ich die Bewegung? Den Stressabbau? Oder doch vornehmlich die Sozialkontakte? Was mache ich sonst, um diesen Bedürfnissen nachzukommen? Wenn nichts davon geht: Was könnte ich sonst probieren?

Wir können wir Struktur in unserem Kopf und unserem Umfeld schaffen. Wir können uns davon abhalten, in Verhalten zu verfallen, das uns nicht gut tut. Wir können unsere Bedürfnisse verstehen und akzeptieren. Wir können individuelle Lösungen für unsere ganz individuellen Probleme finden – auch unter den aktuellen, schwierigen Bedingungen.

Falls du Hilfe brauchst

Falls du jemanden zum Reden brauchst und das Gefühl hast, dein Umfeld nicht weiter belasten zu können, ist die Telefonseelsorge 24/7 für dich da – telefonisch, aber auch im Chat! Falls du meinst, therapeutische Hilfe zu brauchen, bemühe dich um eine psychotherapeutische Sprechstunde. Dabei können die Terminservicestellen des Bundes und der Länder weiterhelfen. Im Krisenfall sind die psychiatrischen Ambulanzen der Kliniken in deiner Gegend offen.

Stay Healthy – better times are coming!

  1. Domänen nach Jeffrey Young et al., 2005, siehe auch Roediger, 2011.[]
  2. in vereinfachter Anlehnung an Grawes Konsistenztheorie[]

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