Schwangerschaftsabbrüche sind ein Teil moderner Demokratien

Ein zentrales feministisches Thema sind gesetzliche Regelungen zu Schwangerschaftsabbrüchen. Die Interessen der Abtreibungsgegner in westlichen Demokratien wie Polen oder den USA gefährden die Freiheit der Frauen.

Wenn man das Ziel des Feminismus kurz benennen wollte, wäre es wohl Emanzipation – die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung der Frau* mit dem Mann*.12 Ersteres gilt heute in der westlichen Welt als selbstverständlich. Vor dem Gesetz sind in Europa und den USA alle Menschen gleich an Recht und Würde. Im negativen Kontext wird der Feminismus daher oft als ein längst überflüssiges gesellschaftspolitisches Projekt abgetan, welches heutzutage nur noch ein Vorwand sein soll, um Frauen strukturell zu bevorteilen. Diese Argumentation dient vor allem einer polemischen Abwehrstrategie, die die Akteur:innen als ideologisch fehlgeleitet diffamieren will.3

Auch in westlichen Demokratien ist das Recht auf Abtreibung gefährdet

Doch während wir hierzulande über angebliche Luxusprobleme wie Gendersternchen und Frauenquoten in DAX-Unternehmensvorständen diskutieren und sie ins Zentrum der Gleichstellungspolitik rücken, wird nur wenigen bewusst, dass die Errungenschaft der rechtlichen Gleichheit von Frau und Mann auf einem wackligen Fundament steht – und in Polen und den Vereinigten Staaten von Amerika massiv bedroht wird.

Gleiche Rechte für alle – das bedeutet in modernen, westlichen Demokratien, dass die Würde, Freiheit und körperliche Unversehrtheit des Individuums per Verfassung oder Grundgesetz garantiert wird. Aber es gibt da dieses eine Thema, das die Gemüter seit Jahrzehnten erhitzt und dazu führt, dass für Frauen diese Rechte nicht uneingeschränkt gelten sollen: Die Rede ist von Abtreibung.

In den USA war es der Tod der liberalen Supreme-Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg, berühmt und geliebt wegen ihres unerbittlichen Kampfes für Frauen- und Minderheitenrechte, der auch die internationale Aufmerksamkeit wieder auf die Abtreibungsregelungen in Amerika lenkte. Mit der Ernennung ihrer erzkonservativen Nachfolgerin Amy Coney Barrett fürchten Feminist:innen weltweit um den Bestand des Urteils „Roe v. Wade“ aus dem Jahre 1973. Dieses Urteil stellt den Schwangerschaftsabbruch unter das Recht auf Privatsphäre und verhindert, dass die Bundesstaaten Abbrüche vollkommen verbieten können. Sollte „Roe v. Wade“ fallen, könnten Planned Parenthood zufolge 25 Millionen Frauen – das ist ein Drittel aller Frauen im reproduktiven Alter in den Vereinigten Staaten – den sicheren, legalen und gut erreichbaren Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen verlieren.4 Die Vereinigten Staaten von Amerika, die erste moderne Demokratie und das Land der Freiheit: Ist man hier kurz davor, Frauen zu zwingen, ungewollte Schwangerschaften auszutragen?

Das moralische Dilemma

Die Abtreibungsgegner:innen sehen sich moralisch ganz klar in der überlegenen Position. Man wolle das Recht des Kindes schützen, sein Recht auf Leben wiege mehr als das Recht auf Selbstbestimmung der Mutter – Abtreibung sei ganz einfach Mord. Häufig werden auch religiöse Argumente angeführt, Gottes Werk der Schöpfung und der Geburt sei ein Wunder, welches der Mensch nicht einfach zerstören dürfe.

Zumindest die weltlichen Argumente dürften jedem zunächst einleuchten. Und gewiss ist auch: Niemand, der die freie Wahl („pro choice“) befürwortet, will Babys töten.Die Argumente der Abtreibungsgegner:innen sind jedoch zu kurz gedacht und vernachlässigen die Perspektive der Schwangeren zutiefst.

Eine Schwangerschaft ist nicht mal eben so durchgestanden. Es ist eine Zeit voller Entbehrungen, Einschränkungen, gesundheitlicher Risiken von psychischer und körperlicher Belastung, bis hin zur Lebensgefahr. Vor allem, wenn die Frau zum Austragen des Fötus genötigt wird. Wer das befürwortet, nimmt Frauen wissentlich ihre Grundrechte auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit und riskiert schwere psychische Folgen wie eine posttraumatische Belastungsstörung. Die Fähigkeit, gebären zu können, ist das Einzige, was an diesen Schwangeren noch wichtig ist: Sie werden schlicht entmenschlicht.

Am Ende steht das moralische Dilemma, wessen Rechte überwiegen, und die Frage, ab wann Leben beginnt. Viele Akademiker:innen und Gerichte haben diese Fragen bereits diskutiert und beantwortet.

Bis ein Fötus eigenständig lebensfähig ist, sollte Abtreibung ermöglicht werden

Der Denkansatz, der hier nun dargestellt wird, entspricht nicht der Auffassung des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Er orientiert sich jedoch an den Regelungen in unserem liberalen Nachbarland, den Niederlanden, wo Abbrüche bis zur 24. Schwangerschaftswoche (das entspricht der 22. realen Schwangerschaftswoche) legal sind: Erst nach diesem Zeitpunkt ist ein Fötus mit allen Hilfsmitteln, die die moderne Intensivmedizin kennt, eigenständig lebensfähig. Davor ist das Leben des Fötus gekoppelt an das der Mutter – und damit auch sein Recht auf Leben.

Diese Argumentation ist drastisch – aber sie ergibt durchaus Sinn. Solange das Überleben des Fötus ohne die Schwangere im Normalfall5 nicht möglich ist, sollten die Rechte der Schwangeren immer überwiegen. Ihr Körper darf nicht gegen ihren Willen „benutzt“ werden, um das Überleben einer anderen Person zu ermöglichen6.

Fristen und Regelungen wie ein verpflichtendes Beratungsgespräch vor einem Abbruch haben natürlich Daseinsberechtigung und werden auch von Seiten der Pro-Choice-Vertreter:innen befürwortet. Abtreibungen im letzten Moment sind nicht zu rechtfertigen, und auch strengere Fristen für den Abbruch wie in Deutschland sind weitestgehend gerechtfertigt.7 Grundsätzlich muss aber der legale Zugang zu einer sicheren Abtreibung zwingend bestehen.

Abtreibungsverbote sind eine massive Freiheitseinschränkung für Frauen

In Polen ist man von dieser Einsicht schockierend weit entfernt. Das katholisch geprägte Land hat bereits eines der strengsten Abtreibungsgesetze in Europa: generell sind Schwangerschaftsabbrüche dort verboten, mit wenigen Ausnahmen: wenn das Leben der Schwangeren gefährdet ist, wenn die Schwangerschaft in einer Vergewaltigung entstanden ist, oder wenn der Fötus massive Fehlbildungen bzw. einen schweren Gendefekt aufweist. Letzteres wurde durch das polnische Verfassungsgericht widerrufen – Eugenik sei verfassungswidrig, das Recht auf Leben müsse gewährleistet werden. In Folge des Urteils kam es zu massiven Ausschreitungen in Polen: zehntausende Menschen, Frauen und Männer, gingen über Tage hinweg auf die Straße, um gegen das Verbot und auch gegen die polnische Regierung zu demonstrieren. Zunächst mit Erfolg: Die Regierung veröffentlichte das Urteil nicht rechtzeitig, weshalb es zunächst nicht in Kraft tritt.8 Doch das Thema ist längst nicht vom Tisch. Die Bedrohung der Freiheitseinschränkung schwebt weiter über den Köpfen tausender Polinnen, für die eine ungewollte Schwangerschaft oft eine wirtschaftliche Katastrophe bedeuten kann.

Schwangerschaftsabbrüche nur in Ausnahmen zu gestatten oder gänzlich zu verbieten, nimmt Frauen ihre Grundrechte. Ein Problem, mit dem Cis-Männer niemals konfrontiert sein werden, und welches sie den Frauen gegenüber strukturell bevorteilt. Freiheit und das Recht auf körperliche Unversehrtheit im Speziellen, und Grundrechte im Allgemeinen, müssen in einer modernen Demokratie für alle Menschen gelten und dürfen niemals vom Geschlecht und den biologisch möglichen Fähigkeiten, die damit verbunden sind, abhängig gemacht werden. Wenn wir bereit sind, Frauen zum Gebären zu zwingen, dann sind wir wissentlich bereit, Grundrechte zu entziehen – für was? Um nachts besser schlafen zu können, weil wir einer vermeintlichen Moral folgen und „Leben retten“? Dieser Gedanke ist ein Trugschluss mit fatalen Folgen. Seitdem der Mensch existiert, treiben Frauen ab. Die Geschichte in den USA und Europa zeigt außerdem: wenn Schwangerschaftsabbrüche verboten oder stark beschränkt werden, flüchten sich die ungewollt Schwangeren ins Ausland oder in die Illegalität – und riskieren damit im schlimmsten Fall ihr Leben, wenn Nicht-Mediziner mit dreckigen Instrumenten hantieren oder die Frau vor lauter Verzweiflung zum Kleiderbügel greift. Schwangerschaftsabbrüche zu verbieten, wird nur wenige Föten retten – und dafür das Leben von vielen Schwangeren fordern.

Wenn “Roe v. Wade” kippt, wenn Polen seine Gesetze verschärft, wenn in Deutschland der Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich weiterhin eine Straftat9 bleibt: Dann sind Frauen und Männer vor dem Gesetz nicht gleichberechtigt.


Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung der Gastautorin wider.


Gastautorin
  1. Das „*“ wird hier einmalig als Hinweis verwendet, dass nicht nur cis-Personen angesprochen werden. Im Verlauf des Textes verdeutlichen die Begriffe „Frau“ und „Mann“ jedoch, welche gesellschaftlichen Probleme in diesem Artikel angesprochen werden. Zwar wird in diesem Artikel von Frauen als Schwangere gesprochen, jedoch sei hier nochmal darauf hingewiesen, dass nicht alle Schwangeren auch Frauen sind oder sich als solche identifizieren.[]
  2. https://www.duden.de/rechtschreibung/Emanzipation (12.11.2020).[]
  3. Rosenzweig, Beate, Feminismus, in: Salzborn, Samuel (Hg.), Handbuch Politische Ideengeschichte. Zugänge – Methoden – Strömungen, Stuttgart 2018, 227-238, 227.[]
  4. https://www.plannedparenthoodaction.org/issues/abortion/roe-v-wade (12.11.2020).[]
  5. Der Normalfall soll hier heißen: ein normaler Schwangerschaftsverlauf einer gesunden Schwangeren und einem gesunden Fötus, um hier generalisieren zu können.[]
  6. Vielen Dank an Isabelle (@isabellelara auf Twitter) an dieser Stelle für deine argumentative Unterstützung![]
  7. In Deutschland ist ein Schwangerschaftsabbruch generell bis zum Ende der 14. Schwangerschaftswoche, also der 12. Realen Schwangerschaftswoche möglich.[]
  8. https://www.deutschlandfunkkultur.de/proteste-gegen-abtreibungsverbot-in-polen-es-geht-um-mehr.979.de.html?dram:article_id=487310 (12.11.2020).[]
  9. Der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland bleibt jedoch straffrei, wenn ein bestimmtes Procedere eingehalten wird, vgl. hierfür § 218, § 218a, § 219 sowie § 219a Strafgesetzbuch (StGB).[]

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