Wider die Zukunftsvergessenheit

Die spektakulären Bilder des James-Webb-Weltraumteleskops sind die passende Gegenerzählung zu der Zukunftsvergessenheit westlicher Gesellschaften. Sie zeigen: Hoffnung ist auch in diesem Jahrzehnt angebracht.

Der Ausdruck, etwas stehe in den Sternen, ist einer der schönsten in der durch Redewendungen geprägten deutschen Sprache. Wer davon spricht, möchte in der Regel auf die Ungewissheit der Zukunft hinweisen – so ruft schon in Schillers “Geschichte des dreissigjährigen Krieges” der Feldherr Wallenstein in einer Unterredung mit dem Astrologen Seni aus, dass seine Zukunft in den Sternen stehe. Nicht nur bei Friedrich Schiller, der mit seinem Freund Goethe “astronomische Parties” feierte, zeigt sich hierbei eine exemplarische Faszination mit dem Astronomischen, die die Menschheit seit ihren Kindheitstagen begleitet und die trotz immer neuem Wissen nie an Aktualität verloren hat.

Die Geschichte der Astronomie ist eine menschliche Erfolgsgeschichte von Talent, Technologie, Fortschritt und genialen Geistern. Von Erkenntniserweiterung zu Erkenntniserweiterung hat sich die Grenze unseres fassbaren Horizonts immer und immer wieder verschoben – nicht erst die beeindruckenden Bilder des James-Webb-Weltraumteleskops führen uns diesen Umstand vor Augen. Und doch, die neuen Aufzeichnungen der NASA haben neben der wissenschaftlichen Ebene eine hohe symbolische Relevanz.

Der Blick ins sogenannte “Deep-Field”, in die Tiefen des Universums, ist kein Blick in die Zukunft, wie die deutsche Redewendung suggerieren könnte, sondern viel mehr in die Vergangenheit. “Wir schauen mehr als 13 Milliarden Jahre zurück”, verkündete NASA-Chef Bill Nelson – das Teleskop nimmt das Licht (und damit die Vergangenheit) von Galaxien auf, das über 13 Milliarden Jahre zu uns gebraucht hat. Wer das James Webb deswegen aber als Forschungsinstrument der Vergangenheit abstempelt, der irrt. Im Gegenteil: wer die immer neuen Bilder der NASA betrachtet, erlebt eine tiefergehende Beziehung von Vergangenheit und Zukunft, die sich in der Existenz des Teleskops zeitigt und die als vielversprechender Ratgeber für unsere Gegenwart dienen kann.

Doch was ist hiermit gemeint? Viele unserer heutigen Krisen lassen sich nur dadurch erklären, dass wir auf Kosten der Zukunft in der Gegenwart die Vergangenheit zeitigen. Die umgreifende Zukunftsvergessenheit westlicher Gesellschaften ist Grund vieler unserer Probleme (Lieferketten, steigende Preise usw.), hemmt unser Potenzial in der Bewältigung vorliegender Probleme (Klimaschutz, Rente usw.) und ermöglicht es Populisten, aus den existierenden Problemen politisches Kapital zu schlagen. Die beeindruckenden Bilder des James Webb müssen eine neue Zukunftserzählung einleiten, die im Kampf gegen die falschen Versprechen der Vergangenheit der Bevölkerung neue Hoffnung in der Bewältigung der Probleme der Gegenwart spendet.

Eine neue Zukunftserzählung beginnt mit einer neuen Einschätzung der Gegenwart – mit einer realistischeren Einschätzung. Die Angst vor der Zukunft ist auch ein Resultat unseres zu pessimistischen Bildes des Jetzt. Wer annimmt, dass es heute schlechter ist als gestern, schlussfolgert schnell, dass es morgen schlechter wird als heute. Beides ist falsch; weder ist unsere Welt schlechter als vor 20 Jahren, noch sollten wir auf Hoffnung für die Zukunft verzichten.

Ja, vieles auf diesem Planeten ist furchtbar, ungerecht und menschenfeindlich. Nicht ohne Grund schreibt Max Roser von OurWorldInData: “the world is awful…”, fügt aber gleichzeitig an: “the world ist much better. the world can be much better”. Das Verständnis der Probleme der Gegenwart, die Einsicht in den Fortschritt der Vergangenheit und die Erkenntnis in die Möglichkeiten der Zukunft sind die Grundlage für ein Denken, das der Menschheit die Hoffnung in die eigenen Fähigkeiten zurückgibt und sich den Apokalypse-Propheten entgegensetzt.

Wer als Antwort auf die mannigfaltigen Krisen unserer Zeit den Kopf in den Sand steckt, wird zwangsläufig irgendwann vom Morgen eingeholt und der Sintflut weggespült. Wer auf die gegenwärtigen Krisen mit den Rezeptlösungen des letzten Jahrhunderts antworten möchte, beschleunigt im Zweifel diesen Prozess nur noch. Ein aktiveres Denken ist gefragt; wir können die Krisen der Gegenwart bewältigen. Unsere Welt muss nicht schlechter werden. Die Besinnung auf das, was die Astronomie zu einer Erfolgsgeschichte gemacht hat; Technologie, Erkenntnis, Talent und Fortschritt, ist zwingend notwendig. Die Struktur des James Webb bietet erste Grundlagen für ein solches Denken:

Dass das Teleskop in seiner Struktur und mit den vielfachen Kameras und Instrumenten ein Wunder der Technik ist, sollte nicht zur Debatte stehen. Auch nicht, dass die Bilder, die in aller Welt bestaunt werden, ohne technologischen Fortschritt wortwörtlich nicht denkbar wären. Und doch bleibt der Glaube an die Technik und ihre Möglichkeiten ein Nischenprodukt und Technologieskeptizismus ein Zustand, der jeden Zeitgeist überdauert.

Es ist eigentlich ein Wunder, dass im deutschen Feuilleton die Existenz von James Webb nicht hinterfragt wurde. Wenn es schon keine Raketenflüge mehr geben soll, wozu dann ein 10 Milliarden Dollar schweres Riesenteleskop? Wer mit den Chancen der Technologie argumentiert, gerät schnell in Verruf, die Herausforderungen des Heute auf morgen zu verlagern, um sich im Jetzt nicht den gegenwärtigen Problemen zu widmen. Dabei sind die Realitäten des Fortschritts doch keine Fragen der Zukunft, sondern Umstände der Gegenwart.

Werfen wir einen Blick auf die Entwicklung von Solarenergie und wir sehen, dass der Elektrizitätspreis zwischen 2009 und 2019 um rund 89% gesunken ist – maßgeblich beeinflusst durch die sinkenden Produktionskosten von Solarzellen. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich bei der Preisentwicklung von Batterien oder Windkraft beobachten. Nur wegen des technologischen Fortschritts der letzten Jahre und Jahrzehnte haben wir heute überhaupt eine realistische Chance gegen den Klimawandel. Nicht nur, weil es günstige Möglichkeiten zur Dekarbonisierung gibt, sondern weil es auch zu einem Wandel der Kommunikation kommen kann. Klimaschutz sollte nicht mehr nur zum Imperativ der Zivilisationsrettung werden, sondern zu einem Projekt der Verbesserung und Modernisierung – was schon aus psychologischer Sicht eine erfolgssprechendere Strategie sein sollte.

Ein gesunder Technologieoptismus darf keine Rechtfertigung für den Status quo sein, sondern muss sich einerseits um die Beschleunigung bestehender positiver technologischer Prozesse bemühen (bei Solar, Windkraft, Batterien, E-Autos usw.) und andererseits die Möglichkeit für die Entwicklung neuer Technologien (bei Crispr, mRNA, Carbon Storage usw.) offenhalten. In erster Linie aber sehen Technologieoptimisten in den potenziellen Chancen der Zukunft Gestaltungsmöglichkeiten für die Gegenwart. Falsche Regulation (beim Ausbau von Windkraft oder dem Einsatz von Gentechnik) abzubauen, unternehmerische Hürden (das Diktat der Bürokratie oder fehlendes Risikokapital) zu senken und ein positiveres Bild von Innovatoren (Ugur Sahin und Özlem Türeci) zu vermitteln, sind dabei grundlegende Aufgaben, um an den Potenzialen der Zukunft auch in Deutschland zu arbeiten.

Aber nicht nur bei Technologie, auch bei Fragen der Globalisierung ist die Geschichte des James Webb eine diametrale Erzählung zu den protektionistischen Tendenzen der Gegenwart. Während Schranken fallen, Mauern errichtet werden und das populistische Gerede von Volkssouveränität dominiert, senden die Bilder aus dem All ein gänzlich anderes Signal.

Die Bilder sind ein Produkt der internationalen Zusammenarbeit, ein Produkt des Zusammenschlusses der USA (NASA), Kanada (CSA) und Europas (ESA), die gemeinsam an der Zukunft gearbeitet haben. Im Teleskop vereinigt sich unter anderem Technik aus Kanada (NIRISS) mit Technologie aus Deutschland (NIRSpec) und Instrumenten aus den USA (NIRCam), die durch eine europäische Trägerrakete von Französisch-Guayana aus ins All startete. Neben der technologischen Ebene ist das James Webb ein Erfolgsprodukt der Globalisierung und der transatlantischen Zusammenarbeit.

In Relation zur antiglobalistischen Wende der letzten fünf Jahre – mitsamt Brexit, Donald Trump und aufkommenden Handelskriegen – bleibt diese Erkenntnis allerdings nur ein kleiner Pyrrhussieg. Globalisierung ist in die Defensive geraten (nicht nur von linker, sondern zunehmend und primär von rechter Seite) und ein Befreiungsschlag scheint auch in Anbetracht des russischen Angriffskrieges und der zunehmenden Eskalation von chinesischer Seite imTaiwan-Konflikt unwahrscheinlicher denn je.

Dass die Rufe nach Autarkie in diesen Zeiten zunehmen, ist einerseits nur verständlich. So führt uns der russische Überfall auf die Ukraine eindrücklich unsere Abhängigkeit von autokratischen Herrschern in Peking oder Moskau vor Augen. Andererseits aber ist dieses Denken ein Fehler, der auf die definitorische Verwechslung von Unabhängigkeit und Autarkie zurückgeht. Während man auf die Abhängigkeit von russischer Energie mit dem Ausbau des heimischen Energiesektors antworten kann, liegt die Antwort auf die Abhängigkeit von der Volksrepublik China primär nicht in den Industriehallen des heimischen Kontinents begründet (Ausnahmen wie in der Chipindustrie bestätigen die Regel).

Diversifizierung ist das Stichwort. Weg von chinesischer Abhängigkeit, hin zum Aufbau neuer und der Vertiefung bestehender Handelspartnerschaften. Mit Vietnam, Indien, Thailand, Südkorea und weiteren gibt es bereits in der näheren Nachbarschaft Chinas eine Auswahl von Ländern, die angesichts chinesischer Hegemonialansprüchen besorgt sind und gemeinsame Abkommen damit im beidseitigen Interesse als Ausweg zu vorherrschenden Problemen dienen könnten. Die anstehende Ratifizierung des CETA-Freihandelsabkommens mit Kanada im Deutschen Bundestag ist ein weiterer Hoffnungsschimmer und sollte den Beginn einer neuen Debatte rund um TTIP einleiten. 

Das Projekt der Globalisierung im Zuge eines rechtsnationalen Backlashes und stets vorherrschender protektionistischer Bemühungen aufzugeben, wäre auch in Anbetracht der Inflation und unserer Demographie ein fatales Signal. Freihandel und Migration als Antriebskraft der wirtschaftlichen Entwicklung im letzten Jahrhundert sind auch in diesem Jahrhundert die Antwort auf viele unserer Probleme.

Markt gegen Staat, Atomkraft gegen Erneuerbare Energien, Klimaschutz gegen Profitstreben, Fortschritt gegen Gerechtigkeit – mit der Kooperation von Staat und Privatwirtschaft entkräftet das James Webb ein weiteres Manko unserer Zeit: das Denken in falschen Dichotomien. Gerade in Deutschland werden auf dem Spielfeld der Nuancen die Denkansätze für aktuelle Probleme schnell durch die Seitenlinien der falschen Gegensätze eingeengt.

Von linker Seite beteuert man, dass der Markt böse sei und ohnehin der Grund für viele unserer Probleme. Liberale wiederholen das politische Spiel, ersetzen aber dabei Markt durch Staat. Was als Folge der Diversität politischer Ausrichtung grundsätzlich erstmal normal ist, wird zunehmend zu einem Problem, wenn das Zurückfallen in simple Schwarzweiß-Dogmatiken die Farbpalette politischer Gestaltungskraft ihrer Kolorierung beraubt. Dabei offenbart sich in einer solchen “Alles-oder-Nichts”-Haltung eine gänzlich unpolitische Unposition. Paul Cézannes Spruch, dass solange man kein Grau gemalt habe, man kein Maler sei, lässt sich in gewisser Weise auch auf die Rolle des Politikers übertragen. Ist das politische Sein doch immer ein Spiel der Nuancen, der Grautöne, der Abwägung von Handlungsoptionen und Zielen gewesen.

Nehmen wir die gegenwärtigen Krisen als Beispiel und schnell werden die Grenzen eines durch Dichotomien geprägten Denkens ersichtlich. Beim Klimaschutz ist kluge staatliche Regulation im gleichen Maße gefordert wie die Innovationskraft marktwirtschaftlicher Mechanismen, damit das Profitstreben eines dänischen Windkraftunternehmens das Profitstreben dreckiger Kohlekraftbetreiber ersetzt. Und während in der Pandemie zwischenzeitlich notwendige staatliche Richtlinien die Ausbreitung des Virus einschränkten, waren es Impfstoffe von privatwirtschaftlichen Unternehmen, die uns einen Ausweg aus der Lockdown-Spirale ebneten.

Falsche Dichotomien aufzulösen, um die richtigen Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit zu finden, ist für alle politischen Akteure keine einfache Sache. Für Linke bedeutet es einzusehen, dass in vielen Fällen staatliche Regulation (beim Bau von Wohnungen oder Windkraftwerken) die Potenziale der Bevölkerung hemmt. Für Liberale wiederum muss die allzu verständliche Skepsis gegenüber dem Staat an vielen Stellen einem gesunden Pragmatismus weichen. Was nicht heißt, dass politische Überzeugungen aufgegeben werden sollten, sondern dass es für die großen Fragen gemeinsame Antworten geben kann.

Ja, und hier kommen wir wieder zum Anfang: dieses Jahrzehnt steht unter einem schlechten Stern. Inflation, Pandemie, Lieferkettenprobleme und das Damoklesschwert der Rezession sind für große Teile der Bevölkerung ein allzu reales Problem. Hinzu kommen die Klimakrise und die unmittelbaren Gefahren des Rechtspopulismus für die liberale Demokratie. Aber nein, unsere Hoffnung sollten wir nicht aufgeben. Hoffnung im Angesicht der Not, Hoffnung im Angesicht der Unsicherheit – das was Barack Obama vor fast 20 Jahren die “Audacity of Hope” nannte, hat auch heute ihren Sinn.

Zwar werden die Sterne nicht vom Himmel fallen. Aber die Frage, unter welchem Stern wir stehen möchten, die liegt an uns.

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