Es ist der 25. März 2021 in der Europäischen Union, in Griechenland herrschen frühlingshafte fünfzehn Grad und die Griechen haben frei. Es ist der „Tag der Verkündigung des Herrn“, ein kirchlicher Feiertag und obendrein ein gesetzlicher in der Hellenischen Republik. Griechenland ist ein spannendes Land, es trägt als eines von 31 Ländern weltweit ein Kreuz in seiner Flagge und es erhält auf regelmäßiger Basis ein kleines Taschengeld vom deutschen Staat. Außerdem ist es das Mutterland der Demokratie, da kann Slowenien nicht mithalten, obwohl an diesem 31. März Muttertag in Slowenien ist.
Und in Deutschland, Sie haben es schon gemerkt, Taschengeld, kirchliche Feiertage, dieser Text handelt vermutlich von der FDP-Jugendorganisation, den Jungen Liberalen, und so ist es. Sie und ich wissen das, aber was Sie vielleicht noch nicht wissen: Am 25. März tagt der Bundesvorstand der Jungen Liberalen und beschließt ein Grundsatzpapier zum Verhältnis von Staat und Kirche. Dabei hätten sie in Griechenland Urlaub machen können, aber da wurde gerade der Herr verkündigt und damit haben es die Jungen Liberalen nicht so. Sie sähen es lieber, wenn die Menschen an kirchlichen Feiertagen arbeiten gingen (und die Griechen sowieso). Daher tagen sie mit gutem, also weltanschaulich neutralem, Beispiel voran und verkündigen selber.
„10 Gebote für einen weltanschaulich neutralen Staat in einer pluralen Gesellschaft“ heißt das liberale Evangelium und dass der Titel auf die historisch bedeutsamen Zehn Gebote in der Bibel anspielt, ist definitiv kein Zeichen für die nicht zu leugnende kulturelle Prägung Europas durch das Christentum (religiöses Zwinkern). Wir wollen an dieser Stelle auch nicht auf dem Titel herumreiten, denn natürlich ist ein weltanschaulich neutraler Staat einer, der es sich irgendwo zwischen Nihilismus und Machiavellismus gemütlich gemacht hat, und den Jungen Liberalen solches zu unterstellen, wäre absurd. Denn ein Blick in die sonstige Beschlusslage der FDP-Jugend offenbart, dass sie über sehr viele Themen aus einer weltanschaulichen Perspektive nachdenkt, zuweilen sogar auf philosophisch höchst anregende Weise. Warum also stechen die „Zehn Gebote“ auf so umnachtete Weise hervor? Warum nur ist es so offensichtlich, dass drei bis vier der Gebote an den Haaren herbeigezogen wurden, auf dass man in der Summe auf zehn komme?
Wer verstehen möchte, warum die Jungen Liberalen beim Thema Kirche und Religion den für sie sonst so üblichen Pfad der Differenzierung verlassen und sich der Lust an der Affektiertheit hingeben, könnte in zwei Richtungen Überlegungen anstellen. Die erste ist schnell erklärt: Es fehlt den Jungen Liberalen womöglich an der theoretischen Kenntnis und an praktischer Kompetenz, wenn es um Kirche und – insbesondere – das Christentum geht. Während innerhalb der Organisation die Medizin- und Jurastudenten, Reserveoffiziere und BWLer, Menschen mit Migrationsgeschichte oder LGBT-Hintergrund viele Debatten mit Detailkenntnissen und eigenen Lebenserfahrungen bereichern, sind praktizierende Gläubige oder Theologen rar gesät. Die Mehrheit der politisch aktiven Jungliberalen besteht aus Zaungästen der Religion, deren Ansichten und Erfahrungen second-hand sind und nicht immer, aber immer öfter auf linksintellektuellen Slogans basieren. Weil keine Experten da sind, um sie vom Innehalten zu überzeugen, landen die Forderungen sodann oft ungewöhnlich nahe am Populismus.
Das führt zum zweiten Punkt, an dem die Jungen Liberalen kranken, und das ist die Abwesenheit einer durchdachten und ganzheitlich schlüssigen, freiheitlichen Haltung zum Thema Religion. Zu oft pendelte die FDP-Parteienfamilie in der Geschichte zwischen der frömmelnden Politik der Union und dem antiklerikalen Sozialismus des linken politischen Spektrums. In seinem Essay „Liberalismus und Kirchen“ aus dem Jahre 1975 kritisierte Alexander Hollerbach bereits dieses Umherwandern in einem Politikfeld, das von Links und Rechts exklusiv abgesteckt und bestellt wird. Über die „Jungdemokraten“, das ältere Geschwisterkind der erst in den 1980er Jahren gegründeten Jungen Liberalen, schreibt Hollerbach im Kontext der Hamburger Beschlüsse: „Die marxistoiden Jungdemokraten (…) beklagen einen Abfall von der gewissermaßen ‚reinen Lehre‘, also die kompromißlerische Verwässerung klarer Prinzipien im Sinne laizistischer Trennungsideologie. (…) Es kommt hinzu, dass der Leitsatz von Trennung von Staat und Kirche hier in einem bestimmten Sinn verstanden wird, nämlich negativ abwehrend, indifferentistisch distanzierend, im Grunde der alten, der Trennungsideologie inhärenten Maxime folgend, wonach Religion Privatsache sei.“ Hollerbach, der als Staatskirchenrechtler Träger des Bundesverdienstkreuzes erster Klasse war und 2020 verstarb, sollte man unbedingt gelesen haben, wenn man eine liberale Position zum Thema Religion in einem modernen Verfassungsstaat sucht. Im selben Text führt er weiter aus, dass die ideologische, also außernormative Auslegung des Grundgesetzes eines Tages zu Behauptungen wie der der Verfassungswidrigkeit der Taufe führen würde.
Hollerbach ist mit dieser Betrachtung in guter Gesellschaft. Da ist natürlich das berühmte Böckenförde-Diktum, dass „der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann“, also die genuine Unfähigkeit des säkularen Staates, soziales Kapital zu erschaffen. Aber auch große Liberale wie Friedrich Naumann und Theodor Heuss haben nicht nur maßgeblich an der Konstruktion des Verhältnisses von Kirche und Staat in Deutschland mitgewirkt, sondern diese Beziehung auch immer als eine im Kern positive, von der Anerkennung und Würdigung gegenseitiger Kompetenzen geprägte Partnerschaft verstanden. Zwar braucht es im 21. Jahrhundert einen neuen, stark veränderten gesetzlichen Rahmen für diese Beziehung, das legen alleine die Mitgliederzahlen der Kirche nahe. Doch den guten Geist sollten sich beide Seiten bewahren. Die Kirche mag schrumpfen und die Anzahl der Christen in Deutschland mit ihr, dennoch bleibt sie auch auf absehbare Zeit noch eine der gesellschaftlich, arbeitsmarktpolitisch und kulturell bedeutsamsten Organisationen in Deutschland. Es ist mehr als legitim, auf Reformen zu pochen, doch jede Maßnahme gleicht einer Operation am offenen Herzen und erfordert daher Sachverstand und chirurgische Präzision. Zu schnell steht am Ende einer im linksliberalen Affekt losgetretenen Ereigniskette die Arbeitslosigkeit einiger Altenpflegerinnen. Außer Acht gelassen wird dabei häufig auch, dass die Prinzipien, aus denen heraus man das institutionelle Christentum abschütteln will, zu einer Beeinträchtigung ganz anderer Lebensbereiche führen können, wenn man sie konsequent zu Ende denkt.
So ist es beispielsweise vollkommen richtig, dass kirchliche Veranstaltungen und Feiertage oft den öffentlichen Raum beanspruchen und eine temporäre Einschränkung für den eigenen Alltag bedeuten, aber das gilt ebenso für Fußballspiele oder den Christopher Street Day. Das Merkmal einer liberalen Gesellschaft ist eben nicht die Abwesenheit von weltanschaulichen Angeboten, sondern ein Geben und Nehmen in gegenseitiger Rücksichtnahme: Heute ein stiller Feiertag für dich, morgen eine Gay-Pride-Parade in der abgesperrten Innenstadt für mich. Die Tendenz, das Kind mit dem Taufbecken auszuschütten, zieht sich allerdings durch die laizistische Programmatik der FDP-Jugendorganisation. Die Breitseite gegen den Sonntagsschutz könnte auch Arbeitnehmerinnen oder Kleingewerbetreibenden schaden. Und die Position zur Abschaffung der Staatsleistungen an die christlichen Kirchen geht überhaupt nicht auf die Auswirkungen auf Staatsverträge mit jüdischen Gemeinden ein, die zurecht für den NS-Terror entschädigt werden.
Bei der Abschaffung der Kirchensteuer, einer an sich vollkommen vernünftigen Überlegung, geben die JuLis keine Antworten auf die Fragen, was das für die Kultussteuer der jüdischen Gemeinden bedeuten würde oder welches Modell die Kirchensteuer ersetzen soll. Ohne eine Steuererhöhung für alle beziehungsweise die Einführung einer neuen „Solidaritätssteuer“, ist die Übernahme der kirchlichen Trägerschaft, insbesondere in Kombination mit der Abschaffung des kirchlichen Arbeitsrechtes, jedenfalls nicht denkbar. Das italienische Modell, wonach alle Bürger eine Art Kirchensteuer zahlen müssen, jedoch selbst entscheiden dürfen, ob sie an die Kirche oder zum Beispiel an einen humanistischen Wohlfahrtsverband geht, könnte eine ebenso liberale wie pragmatische Übergangslösung sein, in der Beschlusslage findet sie sich allerdings nicht. Dabei sei noch erwähnt, dass die Erhebung der Kirchensteuer für die Finanzämter eine echte „Cash Cow“ ist, da der Staat für diesen sehr einfachen Verwaltungsakt immerhin zwischen 2,5 und 4,5 % der Einnahmen einbehält. Auch über die Möglichkeit, aus der Türkei finanzierte muslimische Gemeinden über eine eigene Kirchensteuer enger an die liberale Verfassungsgemeinschaft zu binden und für mehr Transparenz zu sorgen, wird auf der höheren Ebene nicht diskutiert.
Zu guter Letzt ist eine logische Inkohärenz zu beklagen, die sich aus der kulturkämpferischen Dramatik ergibt, die sich die Jungen Liberalen selbst verordnet haben. Das Argumentum ad hominem gegen Kirche und Religion ist dabei möglicherweise ein notwendiges Ventil, um bei aller Differenziertheit bei anderen Themenfeldern auch einmal „jung und naiv“ sein zu dürfen. Das führt zu abenteuerlicher Inkonsistenz bei der Auslegung von Prinzipien. Junge Liberale argumentieren gegen die Staatsleistungen an die Kirchen, da es illiberal sei, ein Wertesystem zu finanzieren, mit dessen Glaubenssätzen man nichts anfangen könne. Schaut man sich die drei großen, vom Gesetzgeber privilegierten öffentlichen Träger der deutschen Gesellschaftsordnung an – Kirchen, Rundfunk und Parteien – offenbart sich aber eine Ungleichbehandlung durch den FDP-Nachwuchs. Während die Staatsleistungen an den Sozial- und Kulturträger Kirche ganz abgeschafft werden sollen, sprechen die JuLis beim ÖRR ganz opportun von einer „Reform“. Die Parteienfinanzierung hingegen wird gar nicht erst angetastet, ohne sie wären Wahlkämpfe nicht zu finanzieren. Dabei erhielten die Parteien 2021 etwa so viel Zuwendungen vom Staat wie die katholische Kirche auch, nämlich gut 200 Millionen Euro. So muss jeder Deutsche, Parteimitglied oder nicht, auch sämtliche Parteien mitfinanzieren – ob er sich an ihre „Glaubenssätze“ gebunden fühlt oder nicht.
Über all dem steht die Frage, wie ein liberal verfasster, demokratischer Staat gewährleisten will, dass eine freie, individualistische und marktwirtschaftliche Gesellschaft nicht in Nihilismus und Egomanie verfällt. Denn obwohl die von uns gewählte Regierungs- und Wirtschaftsform in der Gesamtbilanz das Leben der Menschen besser, freier und fairer macht, sind zunehmende Vereinzelung und Relativierungen keine reinen Einbildungen. Man muss sich der These der „Diktatur des Relativismus“ von Papst Benedikt XVI. nicht in ihrer Gesamtheit anschließen, um sie sich wenigstens einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Immerhin ist auch der politische Liberalismus selbst ohne die Herleitung des Individualismus aus dem biblischen „Imago Dei“, dem calvinistisch geprägten Leistungs- sowie dem jüdischen Kompetenzgedanken und die Kopplung von Freiheit an Verantwortung nicht denkbar. Man muss nicht gleich Christ oder Jude werden, um die Einbettung der eigenen Lebensrealität in einen transzendentalen Kontext nicht als nutzlose Folklore abzutun, sondern darin auch eine Voraussetzung für das Funktionieren eines demokratischen Staates zu erkennen.
Der deutsche Staat soll, ja darf kein christlicher oder religiöser sein, schon aus christlicher Überzeugung heraus nicht. Weltanschauliche Neutralität hingegen birgt das gefährliche Potenzial von religiösen Schwelbränden in Blind Spots und einer Bevölkerung, die keine gemeinsamen ethischen Überzeugungen mehr teilt. Damit die Jungen Liberalen mit ihrer säkularen Mission nicht nur die eigene Prinzipienfestigkeit wie eine Monstranz vor sich hertragen, sondern auch eine für alle Beteiligten sinnvolle Lösung finden, müssen sie ihre „Zehn Gebote“ womöglich überarbeiten. Vielleicht versuchen sie es beim nächsten Mal weniger mit dem Alten Testament, sondern mit dem Neuen: Ein antithetisches „Ich aber sage Euch“ als reformatorischer Impuls zur eigenen Programmatik verwirklicht nicht nur die Trennung von Kirche und Staat auf gerechtere und zügigere Weise, sondern genügt auch dem intellektuellen Anspruch an Politik, den die Jungen Liberalen in anderen Politikfeldern zu erfüllen wissen. Wer will, kann ja für sie beten.
Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung des Gastautors wider.