“Wer einen Denker verstehen will, tut gut daran, auch die Welt zu bedenken, aus der er stammt.” Wenn der Philosoph Wilhelm Weischedel, auf den dieses Zitat zurückzuführen ist, von der Welt Martin Heideggers redet, meint er eine kleine karge Hütte am Hang des Feldberges, den Schwarzwald und das zu dessen Füßen liegende Freiburg. Den Bezug zur Heimat macht er zum Fundament des grüblerischen Tiefsinns Heideggers.
Nun ist es allerdings nicht mein Anliegen, weiter auf die philosophische Bekanntheit aus dem Süden Deutschlands einzugehen. Der Freiburger Geist, von dem im Titel die Rede ist, meint nicht die Eigenarten der heideggerianischen Existenzialphilosophie, sondern referiert ganz direkt auf eines der spannendsten politischen Dokumente der Bonner Republik. Der Weg führt hinunter von der Todtnauer Provinz, hin zur (alten) Stadthalle in der Wiehre. Es war dort, wo vor 50 Jahren die Freiburger Thesen beschlossen wurden.
Vorausgegangen waren dem endgültigen Beschluss drei Tage intensiver Beratung unter den 400 Delegierten der F.D.P. Ein Programm, was den Ansprüchen eines modernen Liberalismus gerecht wird, sollte gefunden werden, wie Parteichef Walter Scheel verkündete. Von der zweiten Phase der bürgerlichen Revolution sprach Werner Maihofer, angetrieben von einer neuen Generation reformwilliger Liberaler, die die Republik verändern wollten (Gerhard Baum). Die FDP sollte in diesem Sinne zu einer Partei werden, die sich als Motor zu den entscheidenden Fragen der damaligen Gesellschaft verstand – so zumindest der eigene Anspruch.
Nicht nur wegen der von ihnen ausgehenden Reformkraft sind die Freiburger Thesen auch heute noch ein beliebtes Parteiprogramm, das immer wieder Anklang in der Öffentlichkeit findet. Als Erinnerungsstück an einen sozialen Liberalismus oder als Projektionsfläche für all das, was dem politischen Liberalismus heute fehlt. Aber auch von Seiten der FDP werden sie immer wieder angeführt, um sich als Vorreiter in Bereichen der Umwelt- und Gesellschaftspolitik zu inszenieren. Wer die Freiburger Thesen aber verstehen will, der tut gut daran, die Welt zu bedenken, aus der sie stammen:
Die Welt zu bedenken, bedeutet auch die damalige Zeit zu verstehen. Die Freiburger Thesen müssen in diesem Sinne auch als ein Dokument des Zeitgeists verstanden werden, der sich als optimistischer Reformgeist ausdrückte. Der sozialdemokratische Konsensus, als Verbund von wirtschaftlichem Wachstum und keynesianischen Wohlfahrtsstaat, und der aufkommende Widerstand gegen eine strukturkonservative Bonner Republik, die zum Wandel nicht mehr fähig schien, prägten das Verständnis der Politik ab der Mitte der 1960er Jahre.
Es waren die Auflehnung gegen Krieg, eine aus der Zeit gefallene Sexualmoral und festgefahrene Strukturen, die tausende junger Studenten auf die Straße trieb. Die Angst davor, dass die zweite deutsche Demokratie den Weg der ersten gehen könnte, im Zuge der Notstandsgesetze der ersten großen Koalition, komplementierten die gesellschaftlichen Stimmungen, die die FDP zu katalysieren versuchte.
Ein Wagnis, war sie in den 60er Jahren doch noch eine gutbürgerliche Partei mit nationalliberalem Charakter. Die Integrierung eines breiteren Liberalismusbegriffes in die FDP, der seine Wurzeln bei Friedrich Naumann und anderen Linksliberalen aus dem Kaiserreich fand, muss als ein Prozess verstanden werden, der mit den Freiburger Thesen manifestiert wurde. Nicht erst das Zerbrechen der schwarz-gelben Regierung setzte diese Entwicklung in Gang, sie gab den Freien Demokraten aber die Möglichkeit, sich in der Opposition ideentheoretisch neu zu orientieren und machtpolitisch von der CDU/CSU zu emanzipieren.
Die sich im Wandel befindende Partei wurde so auch für Intellektuelle interessant, die schnell und direkt Einfluss auf die FDP nehmen konnten, um ihre Ideen und Theorien an der politischen Wirklichkeit zu „testen“.
Ralf Dahrendorf, der 1967 in die Politik wechselte, verkündete bei seinem ersten Auftritt, dass in Deutschland wieder Politik gemacht werden müsse, und deswegen das Wagnis des Wandels die eingeschlafene Republik aus ihrem Dornröschenschlaf erwecken solle. Das Aufeinandertreffen mit Rambo-Revoluzzer Rudi Dutschke machte den “hochbegabten Überflieger” Dahrendorf 1968 endgültig zum Shootingstar der FDP. Aber auch seine Werke Bildung ist Bürgerrecht und Gesellschaft und Demokratie in Deutschland prägten die intellektuelle Landschaft entscheidend und versammelten die aufstrebenden Jungdemokraten vorübergehend hinter seiner Reformagenda.
Auch der Rechtsprofessor Werner Maihofer, der sich bereits einen Namen gemacht hatte, wagte 1969 den Sprung in die Politik. Der spätere Innenminister wurde zum Vorsitzenden der FDP-Programmkommission, die in vielen Sitzungen das Freiburger Programm erarbeitete. Der Mann mit großer Brille und noch größerem Verstand gilt heute als Vater und Impulsgeber der Freiburger Thesen. Unter anderem unter Heidegger studiert, verfügte Maihofer über ein beeindruckendes Fachwissen in der Philosophie. Mit Anleihen bei Kant, Hegel und Mill zeichnete er so ein modernes Bild des Liberalismus mit einem aktiven Freiheitsbegriff im Zentrum.
Ein dritter Name muss hier noch Erwähnung finden: Karl-Hermann Flach. Es war Parteichef Walter Scheel, der Flach in die Schaltzentralen der FDP zurückführte. Als Generalsekretär sollte er sich einerseits um die Versöhnung der parteiinternen Flügel bemühen und als Herausgeber der Freiburger Thesen andererseits die programmatische Neuaufstellung der Liberalen vorantreiben. Sein 1971 erschienenes Buch Noch eine Chance für die Liberalen oder die Zukunft der Freiheit nahm dem Freiburger Programm bereits einige Punkte vorweg. Ein dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus sollte gefunden werden, um den Untergang des liberalen Systems zu verhindern. Flach versuchte in gewisser Weise das Erbe Naumanns und Heuss‘ in die Wirklichkeit zu übersetzen und damit der Freiheit die Zukunft zu ebnen.
Wer die Freiburger Thesen liest, der spürt, wie die geballte Kraft des Intellektuellen den Freiburger Geist bestimmt. Dies wird schon oder gerade in den Vorwörtern von Scheel, Flach und Maihofer sichtbar, die ihr inneres und äußeres Reformprogramm aus einem geschichtlichen Verständnis des Liberalismus abzuleiten versuchen.
Mit Friedrich Naumann, so schreibt es Werner Maihofer, müsse man bis zur untersten Tiefe seiner eigenen Prinzipien hinabsteigen und aus dieser seiner alten Brunnenstube neues Wasser herausholen. Walter Scheel betonte, dass er sich in der Ahnenreihe eines Liberalismus der Vernunft fühlen würde. Und während Scheel sein Erbe bei deutschen Liberalen wie Theodor Heuss suchte, spannte Maihofer den großen Bogen zu den bürgerlichen Revolutionen in Frankreich und Amerika, die er als Katalysatoren einer “Freiheits- und Befreiungsbewegung” ausmachte, die bis heute das geistige Schicksal unserer westlichen Welt bestimmt.
Die Zukunft des westlichen Systems ruht auf seiner Reformkraft, erklärte Karl-Hermann Flach, weil die Freiheit sonst drohe zugunsten der Utopie von der totalen Gleichheit verloren zu gehen. Der Liberalismus müsse sich reformieren, um eine Alternative zu der Anziehungskraft des Sozialismus (insbesondere auf die intellektuelle Jugend) zu bieten. Dabei sollten die Freiburger Thesen als Langzeitprogramm Schritt für Schritt die Gesellschaft verändern. Die “Freiheit der Persönlichkeit” und die “Wahrung der Würde des Menschen” sollten weiterhin im Zentrum des Liberalismus stehen, aber möglichst für alle Schichten.
Industrieuntertanen sollten in Industriebürger verwandelt werden, durch einen Ausbau der Mitbestimmungsrechte in den Betrieben, was später in der sozialliberalen Koalition so umgesetzt wurde. Auch eine Vermögensbildung für breitere Schichten sollte hierzu beitragen, um eine Gesellschaft von Eigentümern zu schaffen. Mehr Eigentum in den Händen vieler Kleinkapitalisten, statt in denen von immer weniger Großkapitalisten, war das Ziel. Auch im Sinne eines effektiven und humanen Kapitalismus sollten mehr Menschen ihren gerechten Anteil an der Ertragssteigerung der Wirtschaft und am Vermögenszuwachs der Gesellschaft teilhaben – dies sei die Freiheitsfrage schlechthin.
Ein Blick auf die deutsche Eigentumsstruktur zeigt, dass ein solches Anliegen noch heute aktuell ist. Dies gilt in besonderer Art und Weise auch für die Umweltpolitik, wo die Freiburger Thesen eine Vorreiterrolle einnahmen. Wo das Bundesverfassungsgericht heute von einer intertemporalen Freiheitssicherung redet, sprach die FDP von einer auf lange Sicht angelegten Umweltplanung – auch für künftige Generationen müsse noch frische Luft vorhanden sein. Die Mittel der sozialen Marktwirtschaft sollten genutzt werden, per Ordnungsrahmen und Verursacherprinzip. In Zeiten einer ausartenden Klimakrise sind die angesprochenen Lösungsansätze, ebenso wie die Forderung einer internationalen Umweltgesetzgebung, dringender denn je.
Auch in Anbetracht der Debatte rund um volkswirtschaftlich dysfunktionale Instrumente wie den Mietendeckel oder eine mögliche Vermögensteuer lohnt ein Blick in die Thesen. Mehr Bauflächen sollten erschlossen werden, und erschlossene Gebiete verdichtet. Um Anreize für eine möglichst effektive Nutzung des Bodens zu setzen, sollte an die Stelle der Grunderwerbsteuer eine Bodenwertsteuer treten, die der neoliberale Ökonom Milton Friedman wenige Jahre später als die am wenigsten schlechte Steuer deklarierte. Ebenso zeigt sich in der geforderten Nachlaßabgabe, die an die Stelle der Vermögensteuer treten sollte, eine Parallele zu ordoliberalen (Vor-)Denkern wie Walter Eucken und Alexander Rüstow.
Man sieht, es gibt viel zu entdecken – auch heute noch. Nicht alles ist noch aktuell. Und nicht alles ist auf den ersten Blick ein lohnenswerter Gedanke, gerade für Liberale. Auch hier gilt es, um es mit Karl-Hermann Flach zu sagen, “jede Idee, jedes Konzept, jede Utopie, jedes Gesetz darauf abzuklopfen, ob sie in der Praxis wirklich mehr Freiheit für mehr Menschen bringen”. Eine lohnenswerte Aufgabe, die vielleicht auch für die kommende Koalition spannende Gedankenanstöße liefern könnte. Und auch wenn nicht: Der Freiburger Geist wird weiterhin künftige Generationen beschäftigen – und das ist auch gut so.