Dem Liberalismus geht es heute nicht gut. Einerseits hat sich die Konstellation seiner Gegner wesentlich verändert, nachdem zu den üblichen Kontrahenten im linken Spektrum in den letzten Jahren neue, nicht minder gefährliche Gegner am rechten Rand aufgetaucht sind. Andererseits sind viele Liberale in den vergangenen Jahrzehnten behäbig geworden und begnügen sich mit einem nicht allzu attraktiven Weiterpredigen der Dogmen der Vergangenheit. In diesem Essay will ich zeigen, wie Liberale aus ihrer Komfortzone hervorgelockt werden können und wie ein Liberalismus für unsere Zeit vor dem Hintergrund der aktuellen Gefahren neu gefasst und gegenüber diesen Gefahren robust gemacht werden kann.
Bevor ich dazu komme, welche Facetten aus der Geschichte des liberalen Denkens für die heutige Zeit besonders aktuell sind, will ich eine These an den Anfang stellen: Jede Zeit braucht ihren eigenen, neuen Neoliberalismus. Wenn man sich die Geschichte des Liberalismus als eine Sequenz aus Neoliberalismen vorstellt, erscheinen alle liberalen Denker, an die wir uns noch erinnern – und viele haben wir, oft zu Recht, vergessen – als Neoliberale im Vergleich zur liberalen Lehre, die sie vorgefunden haben. Adam Smith zum Beispiel war ein Neoliberaler vis-à-vis John Locke, John Stuart Mill wiederum ein Neoliberaler vis-à-vis Locke und Smith. Falls man sich dieser prozeduralen Lesart des Begriffs „Neoliberalismus“ anschließt, ist die Geschichte des Liberalismus die Kombination aus einem relativ festen Kern und einer variablen Schale, an der jede Generation evolutionär ihre neuen Inhalte und/oder neuen Rhetoriken anbringt – die, falls sie revolutionären Charakter haben, natürlich auch den Kern verändern können.
Warum ich als Liberaler die Selbstzeichnung Begriff „neoliberal“ gegenüber „klassisch-liberal“ eindeutig präferiere, ergibt sich aus dieser prozeduralen Lesart. Sobald etwas zur Klassik ernannt wird, wird dieses Etwas auf einen Sockel gehoben und die Anhänger fangen an, diese Klassik zu verehren und nachzuahmen. Im liberalen Kontext birgt es eine Gefahr, die für jeden sichtbar ist, der mit jüngeren Liberalen heute kommuniziert: die Gefahr des Dogmatismus und der doktrinären Erstarrung. Ganz egal, welchen Säulenheiligen man sich zum Klassiker aussucht: Die Neigung zum unkritischen, manchmal auch sektiererischen Nachbeten ist schnell da. „Neoliberal“ hingegen nimmt die Geschichte des Liberalismus ernst, lässt sich von den alten Dogmen und Doktrinen inspirieren,versteht diese aber „nur“ als Anregung beim Beantworten der Frage, was genau der für die eigene Zeit adäquate Liberalismus sein kann. Und beinhaltet damit für jede neue Generation den Impetus, einen eigenen, neuen Neoliberalismus zu konzipieren.
Unzählige Menschen haben in der Geschichte der Freiheitsidee zu definieren versucht, was Liberalismus ist. Ich möchte hier mit einer besonders eleganten Definition starten, die ich jüngst in den Schriften der Chicagoer Ökonomin Deirdre McCloskey vorfand. Für McCloskey sind die in der liberalen Ordnung ablaufenden Prozesse mit einem Gespräch unter Erwachsenen vergleichbar, die sich auf Augenhöhe begegnen und dabei die Würde des anderen ohne Wenn und Aber respektieren. Diese kluge Definition ist besonders geeignet, vor verschiedenen Fehlinterpretationen des Liberalismus zu warnen, die ich als Nächstes adressieren will, um zum Schluss meine eigene Version anzubieten, was Liberalismus vor dem Hintergrund der heutigen Gefahren bedeuten könnte.
Liberalismus ist keine Idee vom Wirtschaftswachstum
Viele Protagonisten in der Geschichte des Liberalismus waren Ökonomen. Das ist deswegen nicht besonders verwunderlich, weil Ökonomen früh verstanden haben, dass für die sozialen Prozesse der Selbstorganisation, die sie untersuchen, die Freiheit eine essenzielle Voraussetzung ist. Man könnte sogar die These vertreten, dass die Ökonomik so etwas wie die wissenschaftliche Schwester des Liberalismus ist. Allerdings darf man dabei einen Fehler nicht begehen: den Liberalismus auf Ökonomisches einengen. Und daspassiert leider oft, sowohl historisch als auch heute. Um dies zu kritisieren, entstand bereits im 19. Jahrhundert der Begriff „Ökonomismus“, der die Position kennzeichnet, dass eine liberal geordnete Wirtschaftsordnung schon der Garant der Freiheit sei. Eine liberal geordnete Wirtschaftsordnung ist zwar eine notwendige, keineswegs aber eine hinreichende Bedingung für die freiheitliche Ordnung der Gesellschaft. Die Wirtschaft ist diejenige Ordnung innerhalb der Gesellschaft, in der die Fähigkeit zur Selbstorganisation und zur Findung dezentraler Lösungen der sozialen Probleme am deutlichsten zu sehen ist, was aber nicht bedeutet, dass Liberale ihren Blick nur auf die Ordnung der Wirtschaft lenken dürfen.
Hinzu kommt durch die Wandlungen der Ökonomik nach dem Zweiten Weltkrieg und der steigenden Bedeutung makroökonomischen Denkens, dass das Wirtschaftswachstum dahingehend in den Mittelpunkt geraten ist, als viele das Wirtschaftswachstum zum Ziel einer liberalen Wirtschaftsordnung erklärt haben. Aber Wachstum ist für Liberale kein Ziel. Vielmehr ist es das Ergebnis einer liberalen Wirtschaftsordnung, die in ihrem Kern die McCloskey’schen Gespräche hat. Falls die Regeln des Ordnungsrahmens fair gesetzt sind, verlaufen diese Gespräche und Verhandlungen zum gegenseitigen Vorteil, woraus höhere Wohlfahrt für die beteiligten Individuen und damit Wachstum entsteht. Ich persönlich freue mich sehr, wenn eine Wirtschaft wächst, denn Wachstum ist ein entscheidendes Mittel, um Armut in der Gesellschaft zu bekämpfen und Umverteilungsprozesse weniger konfliktär ablaufen zu lassen. Außerdem kann Wachstum so gestaltet werden, dass es nicht unbedingt zu Konflikten zwischen Ökonomie und Ökologie kommt. Entscheidend sind auch hierfür die Regeln des Ordnungsrahmens und die darin enthaltenen Anreize.
Liberalismus ist keine Idee vom atomistischen Individualismus
Das nächste Missverständnis, das sich im liberalen Diskurs häufig sehe, liegt in einer Version des Individualismus, die ich „atomostisch“ nennen will. Natürlich ist der Liberalismus eine individualistische Gesellschaftstheorie. Dabei stellt sich aber die Frage, welches Menschenbild diesem Individuum zugrunde liegt. Zu unterscheiden wären hier zwei Perspektiven. In der einen geht es hauptsächlich oder gar ausschließlich um die Abgrenzung des Individuums von den anderen Individuen und dem Staat, etwa durch Eigentumsrechte. Und dabei belässt man es auch. Ich stelle es mir wie ein Individuum vor, das sein Haus mit hohen Mauern und eigenen Waffen umzingelt hat und in diesem Zustand verharrt. „Don’t tread on me“ ist ein Spruch aus der heutigen Meme-Welt, der das gut zusammenfasst.
Die zweite Perspektive lässt sich eher durch „Don’t tread on anyone“ zusammenfassen. Natürlich sind Eigentumsrechte essenziell für den Schutz des Individuums vor allen möglichen Übergriffen. Aber in dieser zweiten Perspektive beginnt das eigentlich Spannende im liberalen Narrativ erst danach, d.h. wenn sich die Frage stellt, welche Voraussetzungen gelten müssen, damit diese mit abgegrenzten Eigentumsrechten ausgestatteten Individuen in die McCloskey’schen Gespräche treten können. Dafür braucht es, wie wir spätestens seit Adam Smiths „Theorie der ethischen Gefühle“ wissen, Empathie, also die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Wer den oft zitierten Satz aus dem „Wohlstand der Nationen“, dass wir nicht auf das Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers angewiesen sind, als atomistischen Individualismus und Egoismus versteht, verkennt, dass die Empathie des Metzgers, Brauers und Bäckers die zentrale Bedingung für diesen Tausch ist, die sie befähigt, sich in den Kunden hineinzuversetzen und genau dasjenige Fleisch, Bier und Brot herzustellen, das der Kunde wünscht. Genauso ist Empathie unser zentraler Kommunikationskanal in der Gesellschaft, der einem Liberalen verbieten sollte, gleichgültig zu bleiben, wenn auf anderen herumgetrampelt wird. Ohne diesen Kanal bleibt das Individuum sowohl in der Wirtschaft als auch in der Gesellschaft ein isoliertes Wesen ohne Schnittstellen an die anderen, das weder Teil der Arbeits- noch der Wissensteilung sein kann.
Liberalismus ist keine Idee von gottgleichen Helden in Wirtschaft und Gesellschaft
Schließlich einige Sätze zur liberalen Auffassung vom Unternehmertum. Unternehmer sind natürlich essenziell für den Fortschritt in Wirtschaft und Gesellschaft – ob als Gründer von innovativen Firmen oder als Initiator von bahnbrechenden sozialen Ideen. Allerdings birgt unsere heutige Welt mit Elon Musk, Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg eine Gefahr für den Liberalismus, die ich „Heldenverehrung“ nennen will. Selbstverständlich ist es bewundernswert, was die heutigen Tech-Giganten auf die Beine gestellt haben. Aber diese Bewunderung verschleiert, dass Unternehmertum oft viel weniger sichtbar und heroenhaft vonstatten geht und dabei unsere Welt genauso prägen kann wie diese Heldenfiguren. Ein Beispiel ist die Erfindung des Rollenkoffers, die denkbar unspektakulär ist, aber die Tourismusindustrie möglicherweise genauso vorangetrieben hat wie die Erfindung des Düsentriebwerks, da erst durch die Erfindung des Rollenkoffers die zahlungskräftigen älteren Kunden längere Reisen unternehmen konnten. Was die liberale Ordnung in Sachen Unternehmertum besonders auszeichnet, ist, dass in ihr „ordinary people extraordinary things“ bewirken können, wie es der George-Mason-Ökonom Peter Boettke formuliert hat.
Bleibt zu umreißen, was aus meiner Sicht der Neoliberalismus unserer Zeit sein könnte. Dieser Liberalismus ist für mich vor allem eine Vernetzungsidee. Der Zauber der liberalen Ordnung besteht darin, den Individuen zu erlauben, sich in den verschiedenen Teilordnungen der Gesellschaft miteinander zu vernetzen. Das können die Transaktionen in der Wirtschaft, aber auch die Interaktionen in der Zivilgesellschaft oder die Kollaborationen in der Wissenschaft sein. Die Vernetzung ist stets eine Kombination aus wettbewerblichen und kooperativen Elementen: In der Wirtschaft zum Beispiel steht man im Wettbewerb mit denjenigen auf derselben Marktseite, kooperiert aber gleichzeitig mit denjenigen auf der anderen Marktseite.
In der global-digitalen Gegenwart wird diese Vernetzung sehr viel weniger abstrakt als früher, sie kann auch ganz anders ausgelebt werden. Das alte Narrativ vom Leben in den zwei Welten der Moderne, in der Gesellschaft und der Gemeinschaft, ist aktueller denn je. Denn die Globalisierung befähigt jeden Einzelnen, die Gesellschaft als etwas Weltumspannendes zu sehen, so dass man potenziell mit jedem Individuum auf dem Globus interagieren kann. Die Digitalisierung wiederum bietet die Möglichkeit, Gemeinschaften zu bilden, die in der vordigitalen Welt schwierig aufrechtzuerhalten waren. An meinem eigenen Beispiel kann ich das vielleicht besonders gut verdeutlichen. Die Globalisierung hat mir etwa die Migrationsentscheidung, die ich mit 18 Jahren getroffen habe, deutlich erleichtert. Die Digitalisierung wiederum ermöglicht mir, Gemeinschaften zu pflegen, die ansonsten verkümmert wären, insbesondere meinen bulgarischen Freundeskreis und meine wissenschaftlichen Freunde in den USA.
Die zentrale geistige Voraussetzung, die dem Liberalismus als Vernetzungsidee zugrunde liegt, ist der Kosmopolitismus. Eine solche Haltung ist nicht einfach, denn in unserer Evolution sind wir über Jahrtausende hinweg in kleinen Gruppen sozialisiert worden, außerdem denken wir seit dem 19. Jahrhundert standardmäßig in den Kategorien des Nationalstaates. So wie ich Kosmopolitismus verstehe, muss man aber weder die eigene Kultur noch die eigene Heimat oder Nation verleugnen. Im Gegenteil, der Respekt für diese Diversität macht die Vernetzung umso wichtiger und ergiebiger. Nichtsdestotrotz ist eine kosmopolitische Haltung, bei der jedem anderen Bürger dieser Welt die gleiche Würde zugestanden wird, die Bedingung für die Vernetzungsfähigkeit der Individuen. Die Richmond-Ökonomin Sandra Peart und der George-Mason-Ökonom David Levy haben dafür den Begriff „analytischer Egalitarismus“ geprägt, der verdeutlicht, dass man als Wissenschaftler und als Bürger seinen Mitbürgern eine Gleichbehandlung schuldig ist, analog zur Gleichbehandlung durch den Staat im Prinzipiensystem des Rechtsstaats.
Neben diesen inhaltlichen Überlegungen müssen heutige Liberale auch ihre Rhetorik neu überdenken. In einer Zeit, die von den Extremen auseinandergerissen wird, darf die liberale Rhetorik unter keinen Umständen in diesen extremistischen Chor einstimmen. Häufig verwechseln wir dabei „radikal“ und „extrem“. Für mich ist „radikal“ eine inhaltliche Kategorie, die vertikale Bohrungen bis zum Kern des Problems bedeutet. Hingegen ist „extrem“ eine rhetorische Kategorie, die horizontal verläuft und dabei die Mitte des politischen Diskurses zu Gunsten der Ränder schwächt. Liberale müssen radikal in der Sache, aber moderat in der Rhetorik sein. Inhaltlich gilt es, oft Mittelwege einzuschlagen, die von selbsternannten „konsequenten“ Liberalen als „muddle of the middle“ karikiert werden. In der Pandemie etwa war es meines Erachtens klug, einen Mittelweg zwischen dem Extrem der Leugnung und dem Extrem der Panik zu finden und diesen mit moderater bürgerlicher Rhetorik zu kommunizieren.
Schließlich resultiert aus der Vernetzungsidee auch ein Optimismus. Selbstverständlich bestehen heute zahlreiche Gefahren und Risiken für die liberale Ordnung. Für Untergangsprophetien sollten sich Liberale dennoch nicht hergeben. Denn es gibt, neben den erneuerbaren Energien, einen weiteren schier unerschöpflichen Rohstoff: die menschliche Kreativität. Für diese kreativen Individuen gibt es, gegeben die global-digitale Konnektivität, ein ständiges, unerschöpfliches Potenzial an Neuvernetzungsoptionen. Und so können sie in den verschiedenen Teilordnungen der Gesellschaft einen sehr bunten Blumenstrauß an alternativen Lösungen für die Probleme unserer Zeit entwickeln. Die Wirtschaftsgeschichte und die Geschichte des ökonomischen Denkens bieten ein reichhaltiges Reservoir an Fallbeispielen für Rahmenbedingungen, die in ähnlich fragilen Zeiten für die polit-ökonomischen Probleme der damaligen Zeit eine Abhilfe geboten haben. Nicht zuletzt diese historischen Lehren stimmen mich optimistisch, dass die Moderne trotz all ihrer Fragilität den normalen Menschen unter uns eine Vernetzung ermöglicht hat, welche die – aus liberaler Sicht – beste aller gewesenen Welten hervorgebracht hat: unsere heutige. Wenn wir noch mehr Raum für die Kreativität und Konnektivität eben dieser normalen Menschen ermöglichen, kann die liberale Ordnung von morgen noch näher an die beste aller möglichen Welten heranrücken.
Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung des Gastautors wider.