Wer am 3. Februar ein deutsches Nachrichtenportal öffnete, wurde mit einer orwellschen Aussage der Bundeskanzlerin konfrontiert. Bei der Impfstoffbeschaffung sei im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen. Nichts schiefgelaufen? In welcher Welt lebt die Bundeskanzlerin? Allein ein Blick auf die derzeitigen innereuropäischen Impfzahlen sollte alle Alarmglocken zum Schrillen bringen.
Während man von den israelischen Impfquoten von ca. 60 Prozent leider nur träumen kann, sind auch Großbritannien und die USA der Europäischen Union meilenweit voraus. Würde weiter im momentanen Tempo geimpft werden, wovon glücklicherweise nicht auszugehen ist, könnten die meisten EU-Mitgliedstaaten etwa in der Mitte dieses Jahrzehnts mit einer Herdenimmunität rechnen.
Es ist also keineswegs „nichts schiefgelaufen“. Im Gegenteil. Es ist das größte Versagen in der Geschichte der Europäischen Union. Ein Versagen, das die Bürger mit tausenden Menschenleben, weiteren Freiheitseinschränkungen und drastischen wirtschaftlichen Einbußen bezahlen müssen. Das Problem lässt sich im Grunde genommen auf einen simplen Sachverhalt herunterbrechen: Es ist zu wenig Impfstoff verfügbar.
Von Seiten der EU und einiger ihrer Apostel, die einen Fehler dieser Organisation grundsätzlich für ausgeschlossen halten, hagelt es naturgemäß eine Ausrede nach der anderen. Weit oben auf der Agenda steht der angeblich verhinderte Impfnationalismus. Wie gut, dass nicht Deutschland den gesamten Impfstoff, der jetzt innerhalb der EU verteilt wird, aufkaufen konnte. Doch so funktioniert Impfstoffbeschaffung nicht. Der Impfstoff ist nicht, wie gerne angenommen wird, auf eine exakte Menge beschränkt, an der nicht gerüttelt werden kann. Es ist ähnlich wie die Produktion von Atemschutzmasken. Deren Produktionskapazität wurde seit Beginn der Pandemie massiv ausgeweitet – aufgrund von Profitanreizen beschlossen auch Unternehmen, die eigentlich in anderen Sektoren tätig sind, Masken herzustellen. Zwar ist die Impfstoffproduktion etwas komplexer, doch auch sie kann ausgelagert werden, was natürlich auch bereits passiert. Moderna lässt zum Beispiel seinen Impfstoff zu großen Teilen vom Unternehmen Lonza in der Schweiz herstellen. Auch BionTech und AstraZeneca produzieren ihren Impfstoff nicht ausschließlich in eigenen Laboren. Wenn die EU ein Angebot von BionTech/Pfizer über 200 Millionen weitere Impfdosen ausschlägt, verrotten diese Impfdosen nicht in einer Lagerhalle oder werden günstig an Burundi weiterverkauft, sondern schlicht und einfach nicht produziert.
Deshalb ist es auch so wichtig, rasch mehr als genug Impfstoff zu besorgen. Nur wenn man Unternehmen schon frühzeitig, am besten vor der Impfstoffzulassung, das Risiko nimmt, können sie ihre Kapazitäten ausweiten. Leider begann hier das zweite Problem der europäischen Strategie, das paradoxerweise von manchen als großer Erfolg gefeiert wird. Die EU-Kommission brüstet sich damit, „günstige Bedingungen“ ausgehandelt zu haben. Man habe weniger gezahlt als Israel, heißt es auch immer wieder. Allerdings ist der Preis das Letzte, worauf geachtet werden sollte. Jede Woche Lockdown kostet uns mehr als ein paar zusätzliche Euro pro Dosis für rechtzeitigen Impfstoff.
An dieser Stelle wird die Schuld gerne auf Einzelpersonen wie Ursula von der Leyen oder auf die allgemeine Tatsache, dass in der EU gerade die „Falschen“ an der Macht sind, abgewälzt. Wir würden heute im Impfstoff-Eldorado leben, wenn nur Margrethe Vestager damals Kommissionspräsidentin geworden wäre. Natürlich gibt es in der Theorie eine perfekte Lösung, eine perfekte Bestellmenge und einen perfekten Preis. Dieses Wunschszenario tritt nur nie ein, solange die richtigen Voraussetzungen und Anreize nicht gegeben sind – was bei staatlichem Handeln ohnehin selten der Fall ist. Zu behaupten, die europäische Impfplanwirtschaft wäre schon korrekt gewesen, man hätte sie nur richtig umsetzen müssen, ist so, als würde man darauf beharren, die sowjetischen Fünf-Jahres-Pläne seien eine gute Idee gewesen, man hätte sie nur anders gestalten müssen. Auch Margrethe Vestager oder jede/r andere Liberale hätte mit den Individualinteressen von allen Mitgliedsstaaten zu kämpfen gehabt. Wenn sich die Franzosen querstellen können, sofern nicht ihr hauseigener Impfstoff gekauft wird, liegt ein strukturelles Problem vor. Sollten die Entscheidungsprozesse der EU sich nicht grundlegend ändern, sodass in Krisen schneller und besser reagiert werden kann, wird sich das aktuelle Versagen häufig wiederholen.
Trotzdem kommt Ursula von der Leyen auch nicht ganz schuldlos davon. Die dilettantischen Vertragsverhandlungen sind sehr wohl ihre Verantwortung. Weil man Impfdosen und nicht Ampullen bestellt hat, liefert BionTech/Pfizerjetzt weniger Impfstoff – nach der Erkenntnis, dass pro Ampulle mehr als eine Dosis gezogen werden könne. Auch die Erzählungen des österreichischen Co-Vorsitzenden der Verhandlungsgruppe, Clemens Auer, sorgen nicht unbedingt für Vertrauen. Seine Überraschung darüber, dass „auf einmal amerikanische Anwälte mit am Tisch [saßen]“, spricht Bände. Wer aus Österreich kommt, ist ob solcher Aussagen wohl weniger erstaunt – selbiger Clemens Auer begründete die hiesige zweiwöchige Impfpause einige Wochen zuvor damit, dass man noch auf eine „kritische Größe“ Impfstoff warte.
Wie man unschwer erkennen kann, ist bei der europäischen Impfstoffbeschaffung alles schiefgelaufen. Man hat zu wenig bestellt, zu spät bestellt, war knausrig beim Preis und dilettantisch bei den Verhandlungen. Es ist auch nicht nur die EU, die an dieser Aufgabe gescheitert ist. Von fast 200 Ländern der Welt hat als einziges Land Israel wirklich gut abgeschnitten. Neben einigen passablen Vorstellungen, beispielsweise in den USA oder Großbritannien, gibt es letztlich nur noch Totalversagen. Daher ist auch nicht davon auszugehen, dass sich die europäischen Einzelstaaten bei Bestellung auf eigene Faust mit genug Impfstoff eingedeckt hätten. Vielleicht wäre es an der Zeit, sich vor der nächsten Pandemie vor den Tücken der Planwirtschaft zu schützen. Es gilt, den freien Markt bei der Impfstoffverteilung nicht zu verhindern, sondern aktiv einzubinden. Schafft man einen Rechtsrahmen, so könnten private Unternehmen für mehr Nachfrage und damit letztendlich auch für mehr Angebot sorgen. In Indien will etwa ein privater Anbieter Impfdosen für umgerechnet etwa 10€ verkaufen (keineswegs nur für die reichsten der Reichen erschwinglicher), hat dafür allerdings noch keine Bewilligung der Regierung erhalten. Es wäre also möglich. Sehen wir es als eine Art Risikoabsicherung. Wenn die EU das nächste Mal versagt, wäre dann zumindest der Markt zur Stelle.
Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung des Gastautors wider.