Diese Brandrede des Unternehmensgründers Marco Scheel stammt aus einem viral gegangenen Film-Ausschnitt der Anfang 2021 ausgestrahlten NDR-Reportage „Wolle for future – Es wird immer bunter“ 1. Darin porträtiert der NDR die von Marco Scheel gegründete Firma „Nordwolle“, die unter dem Schlagwort Eco Fashion mit der Produktion von Funktionskleidung aus Wolle von Pommernschafen eine regionale und nachhaltige Alternative zur konventionellen Textilherstellung anbietet.
Voll und ganz dem Nachhaltigkeitsgedanken verschrieben, beabsichtigte Scheel, zwei alte Ställe aus massivem Backstein auf seinem Hof in Züsow im Landkreis Nordwestmecklenburg zu sanieren und für die Produktion zu nutzen.2 Dies rief jedoch die zuständige Bauaufsichtsbehörde auf den Plan.
“Das Ding ist, ich brauche hier – weil wir sind im Außenbereich – da […] muss ich eine Umnutzung machen, weil das ist ja hier landwirtschaftlich genutzt [zeigt auf leeren Stall]. Sieht man ja, sieht man ja, okay? Da brauche ich also eine Umnutzung und die Umnutzung findet auf dem Formular vom Bauantrag statt. Das heißt also das ist ein Bauantrag. Und ein Bauantrag im Außenbereich wird erstmal abgelehnt. Die Behörde wies Scheel darauf hin, dass zunächst der Flächennutzungsplan durch das Amt Neukloster-Warin geändert werden müsse und die Gemeinde Züsow daraufhin einen Bebauungsplan aufzustellen habe, bevor der Bauantrag Aussicht auf Erfolg hätte.” 3
Scheel berichtet von einem Gespräch mit dem Bürgermeister der Stadt Wismar und der Landrätin des Landkreises Nordwestmecklenburg, bei dem man ihm angeboten habe, seine Produktion nach Wismar zu verlegen, wo gerade ein Gewerbegebiet „auf grüner Wiese“ erschlossen worden sei. Dort könne seine Produktion sogar öffentlich gefördert werden. An der Genehmigung der Nutzung und nachhaltigen Verwendung der seit 200 Jahren bestehenden Ställe bestünde dagegen kein Interesse.
„Das ist ganz einfach, politischer Wille ist nicht da, dass ich hier produzieren kann. Weißt du was die zu mir sagen, die sagen zu mir: „Wir wollen die Zersiedelung des ländlichen Raumes aufhalten.“ Hier oben Alter. Guck doch mal raus: Wenn du hier rausguckst, […] da kannst du bis zum Horizont, geht ein Feld und wenn du an dem Horizont stehst, dann kannst du nochmal bis zum Horizont gehen, ist immer noch das gleiche Feld […]. Wo ist denn da ne Zersiedelung bitte? Weißt du im Münsterland – meine Frau kommt aus dem Münsterland – da ist ne Zersiedelung, ja da kann man das so sehen, ja. Aber das ist schön, das ist ne schöne Landschaft. Und hier ist Agrarwüste. Und wenn einer kommt und möchte halt irgendwelche alten Ställe irgendwie nutzen…“ 4
Scheel schließt seinen Rundumschlag mit einem Hieb auf die zuständigen Entscheider in der Behörde.
„Und die Leute die sowas entscheiden, das sind ja keine Bauingenieure oder so. Das sind Leute die haben Verwaltung gelernt. Verwaltung, das sind vom Beruf Verwalter, die verwalten unseren Reichtum.“ 5
Ich erinnere mich an keinen Film, keine Sendung, keinen Musiktitel – keinen in irgendeiner Weise medial transportierten Sinneseindruck – der mit meiner Gefühlswelt so perfekt resoniert hat, wie Marco Scheels fünfminütige Brandrede. Und das liegt nicht an einer neurotischen Obsession mit der deutschen öffentlichen Verwaltung, die manche Leute auf die Idee bringt, sich mit selbstgebastelten Ausweisen als „Selbstverwalter“ oder „Reichsbürger“ vom „Personal“ der Bundesrepublik zu unterscheiden.
Nein, ich beschäftige mich nahezu tagtäglich mit solchen Dingen, weil ich Verwaltung gelernt habe. Ich bin von Beruf Verwalter.
Um eins voranzustellen: Augenscheinlich bestehen geringe Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung über Scheels Baugesuch. Abgesehen von nach § 35 Abs. 1 BauGB gesetzlich privilegierten Bauvorhaben ist der Außenbereich – also die Fläche ab der hinteren Gebäudekante eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils – grundsätzlich von jeder Bebauung freizuhalten. Zwar kann von diesem Grundsatz gemäß § 35 Abs. 2 BauGB eine Ausnahme zugelassen werden, aber nur wenn die in § 35 Abs. 3 BauGB nicht abschließend aufgezählten öffentlichen Belange nicht beeinträchtigt werden.
Es ist wie ein Kartentrick: Egal welche Karte der Bauherr zieht, das Ergebnis ist nahezu immer eine Beeinträchtigung öffentlicher Belange und eine Ablehnung des Antrags auf Baugenehmigung. Für die Umnutzung von Bestandsgebäuden im Außenbereich werden zwar in § 35 Abs. 4 BauGB gewisse Erleichterungen zugelassen, die allerdings weiterhin unter dem Grundsatz des repressiven Bauverbots stehen. Es gibt weniger öffentliche Belange, die beeinträchtigt werden können. Der Bauherr darf eine Karte aus einem kleineren Stapel mit gezinkten Karten ziehen. Im Zweifel kann jedes Bauvorhaben irgendwelche schädlichen Umwelteinwirkungen hervorrufen oder ist nicht hinreichend erschlossen. Und ein Antrag auf Baugenehmigung ist abzulehnen, wenn einem Bauvorhaben auch nur eine einzige öffentlich-rechtliche Vorschrift entgegensteht.
Wenn also – rein rechtlich betrachtet – nahezu jedes nichtprivilegierte Bauvorhaben im Außenbereich unzulässig ist, wie kann es dann sein, dass dort von Geschirrhütten zur Unterbringung von Gerätschaften über Sportanlagen teilweise ganze Wohnsiedlungen entstanden sind? Die Frage berührt zwei unterschiedliche rechtspolitische Problemkreise, das Problem der administrativen Kapazitäten und das Problem der politischen Auswirkungen des Gesetzesvollzugs.
Administrative overstretching und das Vollzugsdefizit
Das gesetzliche Mandat der Bauaufsichtsbehörden ist an den Begriff der „baulichen Anlage“ gekoppelt. Typischerweise umfasst dieses Mandat die Überwachung der an die Errichtung und Nutzung baulicher Anlagen gestellten öffentlich-rechtlichen Vorschriften (vgl. § 47 Abs. 1 LBO BW). Eine bauliche Anlage im Sinne des Gesetzes ist dabei jede Anlage die unmittelbar mit dem Erdboden verbunden ist, Kraft eigener Schwere auf dem Boden ruht oder überwiegend ortsfest verwendet wird und aus Bauprodukten besteht (vgl. § 2 Abs. 1 LBO BW). Sogar Abgrabungen oder Lager- und Stellplätze, also Dinge, die sich dadurch auszeichnen, dass sie eben nicht durch das Zusammenfügen von Bauprodukten entstehen, fallen in diesen Anwendungsbereich.
Es lässt sich ohne große Übertreibung behaupten, dass im Zweifel alles, was nicht selbstständig schwimmt, fliegt oder läuft, eine bauliche Anlage im Sinne des Gesetzes darstellt. Doch damit ist nicht genug. Das Baurecht als anlagenbezogenes Verwaltungsrecht unterscheidet sich im Vollzug von anderen Bereichen des Ordnungsrechts in einem wesentlichen Punkt: Während der beispielhafte Verstoß gegen die Geschwindigkeitsbegrenzungen irgendwann notwendigerweise aufhört – auch einem notorischen Raser geht irgendwann der Tank aus – bleiben Verstöße gegen anlagenbezogene Vorschriften ohne menschliches Zutun faktisch ewig bestehen. Beispielsweise wird eine illegal im Außenbereich errichtete bauliche Anlage auch in 100 Jahren noch illegal sein, sofern sie nicht durch eine Gesetzesänderung oder Baugenehmigung legalisiert wird.
Wenn also jede Parkbank, jeder Lagerplatz, jede Schaukel und jedes Baumhaus eine bauliche Anlage darstellt, die alle im Außenbereich unzulässig sind und nicht aufhören unzulässig zu sein, kann der Laie vielleicht erahnen, wie allumfassend das gesetzliche Mandat der Bauaufsichtsbehörden und wie ressourcen- und personalintensiv seine konsequente Erfüllung wäre. Dass die tatsächliche Ausstattung der Behörden hinter diesen Erfordernissen zurückbleibt, ist ebenso unvermeidlich wie die Tatsache, dass jeder Sachbearbeiter seinem Nachfolger einen größeren Stapel unbearbeiteter Vorgänge vermachen wird, als er von seinem Vorgänger geerbt hat.
Weil die administrativen Kapazitäten der Bauaufsichtsbehörden also niemals ausreichen, um dem gesetzlichen Mandat im Nachhinein zu entsprechen, muss jede Behörde eine Priorisierung ihrer Aufgaben vornehmen. Entgegen dem Grundsatz der Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz werden bestimmte Rechtsverstöße geahndet und bestimmte Rechtsverstöße ignoriert. Diese selektive Aufgabenwahrnehmung ist praktisch unvermeidlich, vermittelt allerdings nach außen – also gegenüber dem Bürger – regelmäßig den Anschein, dass bestimmte Vorschriften zur Disposition der Behörde stünden. Dieser Eindruck schlägt spätestens ab dem Zeitpunkt in den Vorwurf der Willkür um, ab dem ebendiese nichtvollzogenen Vorschriften herangezogen werden, um die Erteilung einer Baugenehmigung abzulehnen.
Die politischen Auswirkungen des Vollzugs
Die Entscheidung der Behörden über die Priorisierung des Vollzugs ist – zumal die allermeisten Bürger mit der Rechtslage, als Ergebnis des politischen Prozesses, zum ersten Mal im Rahmen eines behördlichen Verfahrens in Berührung kommen – notwendigerweise politischer Natur. Paradoxerweise werden die Bauaufsichtsbehörden seitens derjenigen, die sich für den Erlass der Gesetze verantwortlich zeichnen, häufig dazu ermutigt oder sogar angehalten, bestimmte Gesetze nicht zu vollziehen, wenn die negativen politischen Auswirkungen aus dem Vollzug zu groß erscheinen.
Das kann sich dahingehend auswirken, dass der Gesetzesvollzug aus politischen Gründen im Einzelfall ausgesetzt wird. Die gravierenden Verstöße gegen Brandschutzvorschriften in der Rigaer Straße 94 in Berlin und die ausdrückliche Anweisung des Baustadtrats Florian Schmidt, diese nicht aufzugreifen, sind dabei ein prominentes Beispiel 6. Umgekehrt kann sich diese Steuerung des Vollzugs auch in einer isolierten politisch oder rein persönlich motivierten Schikane in Ungnade gefallener Bürger ausdrücken. Die Hingabe, die manche Kollegen an den Tag legen, um einem als Arschloch identifizierten Bauherren eins auszuwischen, straft jedes Beamtenklischee Lügen.
Rechtssicherheit durch Bürokratie
Angesichts dieser – scheinbaren oder tatsächlichen – Willkür in der bauaufsichtlichen Vollzugspraxis muss die Herstellung von Rechtssicherheit ein zentrales Element einer liberalen Reformagenda sein. Und das kann zunächst nur durch eine Abschaffung der beschleunigten Genehmigungsverfahren erfolgen, die über die letzten Jahrzehnte bundesweit als Maßnahme zur Reduktion von Bürokratie eingeführt wurden.
Sogenannte „vereinfachte Genehmigungsverfahren“ sind Baugenehmigungsverfahren, in denen der gesetzliche Prüfungsumfang der Bauaufsichtsbehörden reduziert ist. Beispielsweise sind die Behörden in Baden-Württemberg gemäß § 52 Abs. 2 Nr. 2 LBO BW gehalten, vor Erteilung der Baugenehmigung die Vereinbarkeit eines Bauvorhabens mit den §§ 5-7 LBO BW – also den Abstandsflächen unter baulichen Anlagen sowie zur Grundstücksgrenze – zu überprüfen. Ein Verstoß gegen Vorschriften des Brandschutzes, über die Anordnung und Anzahl von Stellplätzen, über die Erschließung sowie diverse soziale Baustandards kann der Erteilung der Baugenehmigung im vereinfachten Genehmigungsverfahren nicht entgegengehalten werden.
Das bedeutet allerdings nicht, dass diese Vorschriften nicht länger einzuhalten sind. Gemäß § 52 Abs. 3 LBO BW müssen Bauvorhaben, auch wenn keine behördliche Prüfung im Genehmigungsverfahren vorgesehen ist, diesen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entsprechen, wofür der Bauherr vollumfänglich persönlich verantwortlich ist. Da die Bauaufsichtsbehörden weiterhin dazu gehalten sind, die Einhaltung derartiger Vorschriften zu überwachen, kann es im Worst-Case-Szenario dazu kommen, dass ein genehmigtes Wohnhaus nicht genutzt werden darf, weil die Gebäudeaußenwand nicht den brandschutzrechtlichen Anforderungen entspricht.
An diesem Beispiel lässt sich die Bedeutung einer „vollwertigen“ Baugenehmigung für den Bürger veranschaulichen. Mit dem bürokratischen Aufwand des Baugenehmigungsverfahrens wird das wirtschaftliche Risiko der Rechtmäßigkeit eines Bauvorhabens auf die Behörden ausgelagert. Die vereinfachten Genehmigungsverfahren verschieben dieses Risiko wieder zulasten des Bürgers, der sich seines Bestandes insoweit nie vollends sicher sein kann.
Reduktion der materiellen Regelungsdichte und die Rolle der Eigenverantwortung
Lange vor der Corona-Pandemie wurde der Begriff der Eigenverantwortung sträflich überstrapaziert. Der eigenverantwortliche Rechtsgehorsam im notorisch unübersichtlichen öffentlichen Baurecht ist ein besonders unschönes Beispiel derartiger politischer Verantwortungsdiffusion.
Wie das Setzen auf Eigenverantwortung jedoch tatsächlich eine Reduktion der materiellen Regelungsdichte bewirken kann, ohne dabei die gesetzlichen Zielvorgaben zu gefährden, lässt sich an einem (effektiven) Emissionsrechtehandel veranschaulichen, mit dem hunderte anlagenbezogene öffentlich-rechtliche Vorschriften, die die CO2-Emissionen von Industrieanlagen regeln, entfallen könnten.
Wie ein Unternehmen organisiert wäre, könnte den Aufsichtsbehörden egal sein, soweit der tatsächliche CO2-Ausstoß die erworbenen Emissionszertifikate nicht überschreitet. Dies würde auch die Behörden ungemein entlasten, die nicht länger den Wartungszustand und das Alter jeder Anlage im Betrieb überwachen müssten, sondern lediglich den totalen CO2-Ausstoß zu überprüfen hätten.
Aber vor allem muss sich der politische Gesetzgeber unter Berücksichtung der begrenzten administrativen Kapazitäten Gedanken machen, welche Vorschriften wichtig genug sind, um sie durchzusetzen, und für welche man bereit ist, das Risiko echter Eigenverantwortung einzugehen.
Finstere Aussichten
Derartige Entwicklungen sind jedoch leider eher unwahrscheinlich. Angesichts eines überwiegend deontologischen Stils in der Umwelt- und Klimapolitik – der sich zunehmend in gesetzgeberischem Mikromanagement ausdrückt – und der Wohnungsknappheit in Ballungszentren, ist zu befürchten, dass das klimaschutzpolitsch motivierte Wachstum der materiellen Regelungsdichte den Gesetzgeber dazu verleiten wird, die Genehmigungsverfahren weiter abzuspecken, um den Blowback durch die, aus größerem Prüfungsaufwand resultierende, längere Verfahrensdauer abzufedern.
Das ist natürlich Benzin für die brennende Mülldeponie, die die bauaufsichtliche Behördenpraxis bereits jetzt schon darstellt. Aber wie hat es Marco Scheel so treffend formuliert: „Am Abfuck sind wir.“
Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung des Gastautors wider.
- https://youtu.be/E9UgBzmU30E 23:24 – 23:36.[↩]
- https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Wutrede-ueber-Bau-Buerokratie-Nordwolle-ist-kein-Einzelfall,wolle258.html.[↩]
- https://youtu.be/E9UgBzmU30E 21:45 – 22:04[↩]
- https://youtu.be/E9UgBzmU30E 22:27 – 23:09.[↩]
- https://youtu.be/E9UgBzmU30E 25:07 – 25:17.[↩]
- https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2020/09/rigaer-strasse-94-berlin-brandschutz-friedrichshain-baustadtrat-.html[↩]