70 Jahre Fremdbestimmung auf dem Dach der Welt

In Artikel 1 der UN-Sozialcharta heißt es: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.“ – Chinas Verhalten könnte dem nicht eindeutiger widersprechen.

Wie so oft war es die Popkultur, die mich politisiert hat. Ich habe begonnen, mich für die Kultur Tibets zu interessieren, weil ich schon als Kind ein großer Fan der Serie „Avatar – Herr der Elemente“ war. Die Welt, in der die Abenteuer von Aang stattfinden, ist fiktiv, aber man kann darin als aufmerksamer Beobachter auch viele Anspielungen auf die Kulturen unserer Erde finden. So basiert die Kultur der Luftnomaden sehr stark auf der Tibets. Die spirituelle Prägung, die pazifistische Natur, die Tracht, die Bauwerke. 

All dies fand ich schon immer faszinierend, aber es lenkt das Interesse auch auf die realen Lebensbedingungen der heutigen Einwohner*innen Tibets. Denn nach dieser Analogie entspricht China der Feuernation – obwohl das Vorgehen der chinesischen Regierung auch viele Analogien zum Erdkönigreich unter Long Feng und den Dai Li Agenten aufweist. Staatliche Propaganda verbunden mit Folter, bis zu dem Punkt, an dem offensichtliche Lügen für wahr gehalten werden. Der Laogaisee, der Ort, an dem die Dai Li-Agenten ihre Gefangenen festhalten, ist eine Anspielung auf die Laogais in China. Laogais, das sind Arbeitslager, in denen man für „Vergehen gegen die Staatssicherheit“, „Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen“, „Anstiftung zum Aufruhr“ oder auch schlicht als unbequemer Bürger, geschickt werden kann. Offiziell sind körperliche Misshandlungen wie Folter verboten, aber es treten so viele „Einzelfälle“ in den Lagern auf, dass „Amnesty International“ dahinter eine Systematik erkennt. 

Tibet: Vor und nach der Invasion

Die Situation in Tibet entsprach auch vor dem Einmarsch der Chinesen keinem Paradies, wie es in esoterischen Kreisen der New-Age-Bewegung teilweise ausgemalt wird. Es ließen sich teils feudale Strukturen wie Leibeigenschaft finden und von einer rechtlichen Gleichstellung waren die Frauen noch weit entfernt. Das Land war eher dogmatisch-religiös geprägt, Grundbesitz und Ländereien wurden zwischen adeligen Familien und lamaistischen Klöstern aufgeteilt.

Allerdings lässt sich dies bei weitem nicht mit der systematischen Unterdrückung der tibetischen Kultur und der buddhistischen Religion vergleichen, die nach der Eroberung Tibets 1951 Einzug gehalten hatte. Maos Truppen zogen eine blutige Schneise durch die Berge des Himalayas. Etwa eine Million tote Tibeter*innen, ermordet in Arbeitslagern, durch Hunger oder offenen Terror. Knapp 4000 zerstörte Klöster, Tempel und sonstige religiöse Kultstätten. Unter anderem auch Bauten, die nicht nur historisch von unschätzbarem Wert waren, wie der 2000 Jahre alte Königspalast Yumbulakhang, welcher der Kulturrevolution von 1966 bis 1977 zum Opfer fiel. 

Vor der Öffnung Tibets waren es vor allem die Berichte von Exiltibeter*innen, die das Land bereisen durften, die Aufschluss über die Situation vor Ort geben konnten, abseits von der chinesischen Propaganda. Denn nach 1959 flohen viele Tibeter*innen gemeinsam mit dem Dalai Lama aus dem Land, da sie um ihre Sicherheit fürchteten. Das waren in erster Linie hochrangige Geistliche. Die meisten setzen sich nach Indien ab, aber auch einige in die USA, nach Deutschland oder in die Schweiz. Nach einer Öffnungsphase wurde es ihnen gestattet, ihre Familie in Tibet zu besuchen. Die chinesische Regierung versuchte dabei die Kontrolle über die Reisen der Besucher zu behalten. Dafür wurden mit viel Aufwand ganze Potemkin´ sche Dörfer entworfen. Schulen, Betriebe und Tempel mit großer Vorbildfunktion wurden aufgebaut, die in der Realität niemals zum Einsatz kamen. Die Bevölkerung wurde instruiert, die Delegation möglichst zu meiden und schon gar nicht mit ihnen zu reden. Durch subtile Drohungen versuchte man die Tibeter*innen von einer Kontaktaufnahme abzuhalten. 

Der Terror Pekings

Pema Thonden berichtete davon, dass sich nach 1959 ein Großteil der männlichen Bevölkerung Tibets in Haft oder in Zwangsarbeitslagern befand1. Statt auf dem Feld zu arbeiten, wie es für die agrarisch geprägte Gegend üblich war, wurden sie in den Bau gezwungen. Eine schwere Arbeit, die die Chinesen im Land nicht verrichten wollten, welche aber notwendig waren für den Bau von Wohnungen für chinesische Funktionäre und Straßen, die Tibeter*innen nicht nutzen durften. Sehr schockierend sind auch ihre Schilderungen der sogenannten Kritikversammlungen oder „thamzings“. Während des thamzings wurden Menschen dazu gezwungen, sich gegenseitig zu kritisieren und zu schlagen. Wer sich dem widersetzte, wurde selbst geschlagen. Nachbarn gegen Nachbarn, Schüler gegen Lehrer, Kinder gegen Eltern, Bedienstete gegen ehemalige Dienstherren, Pächter gegen Grundbesitzer. Diese grausame Praktik war ein Mittel, um den Zusammenhalt der tibetischen Gesellschaft zu brechen. Sie führte auch vielfach zum Verlust von Gehör und Sehkraft bei den betroffenen Personen. 

Offiziell hat China 1988 das internationale “Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe” unterschrieben, aber man hört bis heute von solchen Vorfällen. Der jüngste Fall fand im Jahre 2020 statt, als der junge Mönch Tenzin Nyima zu Tode geprügelt wurde.  Er wurde von Polizeikräften aufgegriffen, als er Flyer verteilte, in denen er die Unabhängigkeit Tibets forderte2.

Im Glauben ungebrochen

Umso beeindruckender ist es, dass die tibetische Bevölkerung bis heute den Widerstand nicht aufgegeben hat. Die Besetzung Tibets jährt sich dieses Jahr zum 70. Mal und doch scheint das Streben nach Unabhängigkeit ungebrochen. Prominent sind vor allem die Selbstverbrennungen der tibetischen Mönche und Nonnen, die Ausdruck der Verzweiflung und einer radikalisierten religiösen Bewegung sind. Dass es die Religion ist, welche die ungebrochene Widerstandskraft der Tibeter erklärt, zeigt sich auch in vielen anderen Situationen.

So wurde das Kloster Ganden, das während der Kulturrevolution fast vollständig zerstört wurde, von Freiwilligen aus Lhasa weitgehend wiedererrichtet. Besonders die junge Generation scheint bis heute tief religiös geprägt zu sein. Wenn der tibetischen Bevölkerung aufgrund der schweren Arbeit kein Schulbesuch ermöglicht werden kann, so wird ihnen oft im Privaten die tibetische Sprache gelehrt. Die chinesische Regierung versucht, diese weitgehend auszumerzen und lehrt fast ausschließlich Mandarin an den Schulen, auch wenn offiziell „zweisprachiger Unterricht“ propagiert wird. 

Auch in den Berichten der Delegationen wird oft klar, wie tief der Glaube innerhalb Tibets verwurzelt ist. Die Exiltibeter*innen führten dort heimliche Gespräche mit den Einwohner*innen, immer mit dem Bewusstsein um die Strafen, die sie im schlimmsten Fall erwarteten. Wenn diese oft sehr langen und emotionalen Gespräche endeten, baten die Einheimischen, anders als im Westen üblich, häufig um einen Gegenstand: Ein Foto des Dalai Lama. Die chinesische Regierung innerhalb Tibets war sich der Bedeutung der Bilder sehr bewusst und verbat den Besitz. Der Bann war von 1996 bis 2013 in Kraft, aber gern gesehen sind die Fotos des Dalai Lama auch heute nicht. 

Shangri-La – ein fiktiver Ort

Allerdings sollte die Rolle des 14. Dalai Lama selbst kritisch beleuchtet werden. Nachdem er 1959 ins Exil nach Indien floh, suchte er im Westen nach Verbündeten, um für die Unabhängigkeit Tibets zu kämpfen oder zumindest die Situation für die tibetische Bevölkerung zu verbessern. Um das zu erreichen, stilisierte er das reale Tibet zu einem mythischen Shangri-La, einem nachhaltigen Land, in dem Frauen gleichberechtigt waren und auch sonst ganz viel Gerechtigkeit herrschte, bis die Chinesen kamen. Diese Vorstellung ist eine Illusion. Der Dalai Lama verklärte das Land Tibet, um es im Westen anschlussfähiger zu machen. 

In gewissen New-Age-Bewegungen findet diese Vorstellung bis heute großen Anklang. Allerdings führt das auch zu einer Entpolitisierung der Tibetfrage. Gerade in den letzten Jahren scheint der 14. Dalai Lama nur noch Lebensratgeber zu schreiben und immer weniger über die reale Situation in Tibet zu sprechen. Ebenfalls problematisch ist der Umgang des Dalai Lama mit den Anhängern des Shugden-Kultes, einer Abspaltung innerhalb des buddhistischen Lamaismus. Er verurteilte öffentlich die Verehrung von Dorje Shugden, was die Spaltung innerhalb der Religionsgruppe vorantreibt und zu weiterer Radikalisierung führt. Der kommunistischen Partei Chinas (KPCh) spielt das natürlich in die Hände.

Um zu meinem Avatar-Vergleich vom Anfang zurückzukommen: Gleich zu Beginn der ersten Staffel erfährt der Protagonist Aang, dass er der letzte Luftbändiger ist, da sein Volk, die Luftnomaden, vollständig ausgelöscht wurde. Die Feuernation hat einen brutalen Genozid begangen. 

Wenn man nach Tibet schaut, gibt es nichts Vergleichbares, wobei es im Zeitraum der Kulturrevolution durchaus Ähnlichkeiten zu einem Genozid gab. Im Nachhinein hat die chinesische Führung der Viererbande die Schuld gegeben, einer mächtigen Clique innerhalb der KPCh. Sie setzten ihre Ziele mit dem Vorschlaghammer durch. Diese Ziele sind bis heute die gleichen geblieben: die Auslöschung der Kultur Tibets. Die KPCh ist sich bewusst geworden, dass man dieses Ziel langfristig anlegen musste, was ihr Vorgehen umso perfider und grausamer macht. 

Wie Peking Fäden zieht

Besonders gut zeigt sich das am Beispiel des Penchen Lama, der zweitmächtigsten Person in der lamaistischen Ausprägung der buddhistischen Religion. Der Penchen Lama ist die wichtigste Person bei der Anerkennung des Dalai Lama, sowie der Dalai Lama bei der Anerkennung des Penchen Lama. 

Nachdem der letzte Penchen Lama 1989 gestorben war, machte sich eine Suchkommission gemeinsam mit dem Dalai Lama auf den Weg, die Reinkarnation des Penchen Lama zu finden. Dem Dalai Lama wurde im indischen Exil eine Vielzahl von Fotos zugesandt, aus der er den jungen Gendün Chökyi Nyima auswählte. Die Regierung in China lehnte dies allerdings ab. Seitdem deutet vieles darauf hin, dass der Penchen Lama entführt wurde. Auch der involvierte UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen zeigte sich besorgt über die Situation. Stattdessen bestimmte China Gyeltshen Norbu als den Penchen Lama. Einen weiteren jungen Mann, der allerdings unter chinesischer Kontrolle steht und von den meisten Exiltibeter*innen nicht anerkannt wird. 

Damit mischte sich China in ein jahrhundertealtes Ritual Tibets ein und unterbrach eine uralte Linie der lamaistischen Religion. 2014 vermutete der Dalai Lama, dass er als Konsequenz nach seinem Tod nicht mehr wiedergeboren werden würde. China lehnt dies logischerweise ab, weil sie sonst kaum noch Möglichkeiten hätten, Kontrolle über die Religion der Tibeter*innen zu erlangen. 

Warum Tibet?

Nach all diesen Schilderungen drängt sich die Frage auf, warum China so großes Interesse an Tibet hat, dass es Unmengen an Ressourcen aufwendet, um Tibet unter Kontrolle zu halten. Das lässt sich vor allem durch die Fülle an Bodenschätzen erklären, die Tibet einst den Namen „Schatzhaus des Westens“ einbrachte. Lithium, Gold, Kupfer, Blei, Zink, Silber und Uran lassen sich dort in Hülle und Fülle finden und die chinesische Regierung scheut sich nicht, diese in einem regelrechten Raubbau abzubauen.

Grausam ist auch die systematische Auslöschung von einheimischen Tieren, die durch die chinesische Regierung mehr oder weniger offiziell veranlasst wurde. Der Bericht von Tsultrim Chhonpel Tersey gibt darüber Aufschluss. Er berichtet davon, dass es seit dem Einmarsch Chinas keine Krähen mehr im Land gäbe, da sie alle ausgerottet oder geflohen seien. Zudem seien die Tibeter*innen für die Tötung von Fliegen bezahlt worden. Auch Apsohunde habe es nicht mehr gegeben. Sie seien entweder erschlagen, abgeschossen oder vergiftet worden, da die chinesischen Besatzer*innen sie als unnötige Esser und unhygienisch betrachteten. Für die tibetische Bevölkerung ist das eine Tragödie. Sie pflegte teils auch aufgrund der kargen Landschaft einen nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen. Eine willkürliche Abschlachtung lässt sich mit ihrem Selbstverständnis kaum vereinbaren.

Remember Tibet

All dies müssen wir uns vergegenwärtigen, besonders in Zeiten einer Pandemie und eines Zeitpunktes, in dem ein biedermeierlicher Rückzug ins Private stattfindet. Gerade jetzt, wo die Situation so sehr dazu verleitet, nur Blick für das eigene Privatleben zu entwickeln, ist es wichtig internationale Solidarität für unterdrückte Gesellschaften zu zeigen. Zudem widerspricht Chinas Verhalten dem Selbstbestimmungsrecht der Völker aus der UN-Sozialcharta. In Artikel 1 heißt es: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung“.

Wenn man sich allerdings die Tibet-Politik der Bundesregierung ansieht, möchte man verzweifeln. Denn strategisch gibt es keine Tibet-Politik. Außenpolitisch spielt dieses Land für Deutschland kaum eine Rolle. Stattdessen wird lediglich eine China-Politik betrieben – diese Strategie ließ sich bisher mit dem Wort „Beschwichtigung“ oder vielleicht auch „Unterschätzung“ zusammenfassen. Natürlich kann man von einem Staat, der in ein Netz von staatlichen Beziehungen eingebettet ist, nicht verlangen, einen Angriffskrieg auf China loszutreten, um Tibet zu befreien. Doch aus rein menschenrechtlicher Perspektive, ist es extrem frustrierend. Ich denke allerdings, dass man an dieser Stelle als mündige*r Bürger*innen nicht einfach stehen bleiben sollte.

Es bleiben noch Wege, sich privat für Tibet, aber auch für andere unterdrückte Ethnien wie die Uighuren, die Einwohner Hongkongs und Taiwans zu engagieren. Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) können dafür ein Weg sein. In Deutschland ist hier besonders die Tibet-Initiative zu nennen, deren Webseite3 auch in Bezug auf die aktuellen Entwicklungen in Tibet immer auf dem neuesten Stand ist. Die Unterstützung kann finanzieller Natur sein, aber da diese Möglichkeit natürlich nicht jedem offensteht, gibt es noch andere Wege: Zum Beispiel ist es hilfreich dafür zu sorgen, dass solch wichtige Themen nicht aus dem medialen Fokus verschwinden. Aufmerksamkeit für die Situation vor Ort ist ein erster und wichtiger Schritt für politische Hilfeleistungen. Wichtig ist jedenfalls, ein Interesse über die eigene Perspektive hinaus zu entwickeln – auch um daraus Schlüsse für unseren Umgang mit China zu ziehen. Politisch und privat.


Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung der Gastautorin wider.


Gastautorin
  1. „Tibet – Traum oder Trauma“ hrsg. von der Gesellschaft für bedrohte Völker und dem Verein der Tibeter in Deutschland eV., Göttingen 1987[]
  2. https://savetibet.de/pressemitteilungen/tibetischer-moench-stirbt-nach-haftentlassung-an-den-folgen-von-schlaegen-ict-muster-von-folter-und-misshandlung-in-tibet[]
  3. https://www.tibet-initiative.de[]

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