„Domine, quo vadis?“ Die Frage stellt der Apostel Petrus, als Jesus in seiner Abschiedsrede ankündigt, er werde hingehen, wohin seine Jünger ihm nicht folgen könnten. Heute, da das Zitat fast abgenutzt und seine ursprüngliche Bedeutung vergessen ist, bekommt die Frage eine andere Bedeutung: Dass die Person, an die sie sich richtet, die Bestimmung verlieren und ihrer Bestimmung untreu werden könnte. Deswegen mag man diese Frage heute an die deutsche Außenpolitik richten, einzig mit dem Unterschied, dass sie nicht geht, sondern sich gehen lässt. Wir lassen uns treiben, sind zu einem Stück Treibholz im Fluss der sich rasant vollziehenden geopolitischen Veränderungen unserer Zeit geworden. Im Angesicht eines geschmacklosen Potpourris aus Visionslosigkeit und Untätigkeit muss es Aufgabe des politischen Liberalismus in Deutschland sein, die notwendigen Akzente zu setzen.
Transatlantis ist nicht vom Meer verschlungen
Zweifelsohne durchleiden die deutsch-amerikanischen Beziehungen die stärksten Belastungen der jüngeren Geschichte. Anders als aber so manch ein Untergangsprophet es beschwört, bedeutet das nicht das Ende der transatlantischen Partnerschaft. Trump ist zweifelsfrei ein außenpolitisch unberechenbarer Zeitgenosse, aber auch als Liberale sollten wir unsere Attitüde unseren Bündnispartnern gegenüber nicht auf eine Person reduzieren lassen. Die Präsidentschaftswahl ist alles andere als eindeutig, in den nächsten Monaten bleibt es spannend. Eine mögliche Präsidentschaft Joe Bidens würde die deutsch-amerikanischen Beziehungen nachhaltig entspannen, aber unabhängig davon, ob es im November „Four More Years“ heißt, oder den Demokraten die heiß ersehnte Reconquista des Weißen Hauses gelingt, wird die Ära Trump Risse im metaphorischen Bündnistempel hinterlassen haben. Doch auch diese sind nicht irreparabel. Gefragt ist also in erster Linie eine Überwindung des allgegenwärtigen Pessimismus, ist doch Optimismus schließlich des Liberalen Allzweckwaffe. Die Kritik aus den eigenen Reihen, der Trump sich im Rahmen seines geplanten Truppenabzuges aus Deutschland ausgesetzt sah, verdeutlicht, dass sich auch unter Republikanern Widerstand gegen Trumps Politikstil und seine Ambitionen regt. Die Vereinigten Staaten sind und bleiben einer unserer wichtigsten Partner, wie Norbert Röttgen zuletzt treffend formulierte.1 Die transatlantische Brücke mag also vielleicht von stürmischen Wellen umgeben sein, aber sie steht mit ihren Pfeilern nach wie vor fest im Boden des Atlantik.
„Dealing with the Dragon“
Warum ist die transatlantische Partnerschaft aber wichtiger denn je? Die Antwort liegt im Osten. Die Volksrepublik China hat eine beispiellose Entwicklung hinter sich, die nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch politischer Natur ist. In Peking ist man hungrig nach Einfluss, und droht dabei die halbe Welt zu verspeisen und das etablierte geopolitische Gefüge aus den Fugen geraten zu lassen. Die One Belt, One Road-Initiative ist dabei nicht nur das ambitionierteste Infrastrukturprojekt aller Zeiten, sondern dient der politischen Führung um Xi Jinping in erster Linie als Instrument der Machtexpansion.2 Aber auch in Afrika lockt die chinesische Sirene schwache Staaten in ihre neokolonialen Fänge.3
Die chinesische Politik ist im Gegensatz zum chinesischen Bürger intransparent, das steht fest. Die Entwicklungen zeichnen über militärische Machtdemonstrationen und territoriale Konfrontation mit den Nachbarn im südchinesischen Meer, faktische Annexion Hong Kongs und Bruch der Sino-British Joint Declaration, Millionen Uiguren in Umerziehungslagern in Ostturkestan aber ein eindeutiges Bild. China will mehr – und lässt sich dabei nicht von „Banalitäten“ wie Demokratie und Menschenrechten, oder der Souveränität anderer Staaten aufhalten. Auch Dauerüberwachung und Social Credit System lassen eine gefährliche Entwicklung erkennen. Jüngst ergab eine erschreckende Umfrage, dass bis zu 40 Prozent der Deutschen eine solche Idee befürworten.4 Doch dies ist nur eine Facette der wachsenden Bewunderung Chinas hierzulande: Auch in der Klimapolitik und jüngst in der Coronakrise gab es aus einigen Kreisen auch hierzulande unkritisches Lob für das Vorgehen der Volksrepublik (dass die von Peking nach außen kommunizierten Infektionszahlen nicht der Realität entsprechen und es auch nie haben, sei an dieser Stelle dahingestellt)5. Und genau hier kommen die Liberalen ins Spiel. Es ist nicht nur unsere Aufgabe, Aufmerksamkeit für diese Entwicklungen zu erzeugen, sondern auch wertvolle Anstöße für den Umgang mit dem Giganten in Fernost zu liefern. China muss in seine Schranken verwiesen werden, und das chinesische Modell – Diktatorische Regierung, Allmachtstaat mit Dauerüberwachung – muss als solches benannt werden.
Es muss also eine gemeinsame China-Strategie her. Nicht nur zwischen Vereinigten Staaten und Deutschland, sondern unter Einbeziehung unserer Bündnispartner in Ost und West: Die EU-Staaten, das Vereinigte Königreich, Kanada und auch die direkt von der chinesischen Expansion betroffenen Staaten Japan und Südkorea – selbst diese Liste ließe sich noch weiterführen. Eine enger abgestimmte Chinapolitik stellt sich nicht nur als pragmatische Notwendigkeit dar, sondern kann auch als vertrauensbildende Maßnahme einen wechselseitigen Spannungsabbau beiderseits des Atlantiks bewirken. Eine Rückbesinnung auf das gemeinsame Wertefundament des Westens kann und muss der Paradigmenwechsel der deutschen Außenpolitik sein, auch um dem strukturellen Vertrauensdefizit gegenüber unseren Bündnispartnern endlich Einhalt zu gebieten.
Strategie und Werteorientierung
Freiheit ist unser Ideal – so auch Menschenrechte und Demokratie. Wenn im Iran Frauen, die ihr Kopftuch ablegen, zu drakonischen Strafen verurteilt werden, in Belarus Demonstranten niedergeschlagen werden und nicht zuletzt in China Menschen- und Bürgerrechte mit Füßen getreten werden, muss Deutschlands Anspruch mehr als eine passiv-defensive Rolle sein. Die wirtschaftliche Abhängigkeit darf nie ein Totschlagargument sein, denn Liberalismus ist mehr als nur Wirtschaft. Liberalismus bedeutet auch die Verteidigung seiner Quintessenz, die übrigens auch die Grundwerte der Vereinten Nationen bilden – weltweit. Was zunächst wie ein idealistisches Glaubensbekenntnis anmutet, ist mehr als das. Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind die Grundvoraussetzungen florierender Gesellschaften und geistiger, wirtschaftlicher und – nicht zuletzt – menschlicher Entwicklung. Liberale Außenpolitik im 21. Jahrhundert ist eine wohltemperierte Mischung aus Strategie und Werteorientierung: pragmatisch und visionär, hart in der Sache und fair im Umgang. Unser Anspruch muss sein, die außenpolitische Geisterfahrt unseres Landes zu beenden und einen klaren Fahrplan zu liefern, Frieden zu bewahren und für das unsere Gesellschaft so stark machende Wertesystem international einzustehen. Dabei muss Deutschland nicht die erste Geige spielen, aber sollte zumindest seine peinliche Stille überwinden. Die diplomatische Einbindung der Interessen der Bundesrepublik in Systeme multilateraler Kooperation ist dabei der Weg zum Ziel, denn erst das Zusammenspiel einzelner Instrumente vermag sich zu einer Jahrhundertsinfonie zu verbinden.
Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung des Gastautors wider.
- https://www.ksta.de/kultur/-hart-aber-fair–trump-fan-zieht-unmut-der-anderen-gaeste-auf-sich—plasberg-ermahnt-37237908, bei Hart aber Fair.[↩]
- https://www.nzz.ch/meinung/belt-and-road-china-formt-die-welt-nach-seinen-vorstellungen-ld.1477177.[↩]
- https://www.deutschlandfunk.de/china-in-afrika-neues-kolonialherrentum.769.de.html?dram:article_id=480233.[↩]
- https://yougov.de/news/2019/02/04/social-scoring-zwei-von-funf-deutschen-wurden-gern/.[↩]
- https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-china-zahlen-infizierte-tote-1.4873744?reduced=true, https://www.spiegel.de/politik/ausland/corona-faelle-in-china-pekings-zweifelhafte-zahlen-a-295ef443-5df3-406b-acff-360746eb27be.[↩]