Die Zukunft des Liberalismus liegt in Europa!

Warum die EU ziemlich liberal ist und wie wir sie noch liberaler machen. Diese Union ist weder ein Zuhause für einen demokratischen Sozialismus noch für illiberale Demokratien.

Wir kennen alle die liberale Dauerkritik am Bürokratiemonster Brüssel oder die teilweise nachvollziehbare Sorge um die europäische Währungspolitik. Immer häufiger schleicht sich allerdings auch in liberalen Kreisen die Bemerkung ein, die EU sei ja gar nicht liberal.

Kritik an der EU ist nicht nur in vielen Politikbereichen berechtigt, sondern muss auf jeden Fall diskutiert werden. Dieser Beitrag soll also nicht die längst überfälligen institutionellen Reformen oder dringend notwendigen Veränderungen inhaltlicher Schwerpunkte in Abrede stellen. Er soll vielmehr ein Augenmerk darauf legen, was die Europäische Union zu einem liberalen Projekt macht, das es stets zu verbessern gilt, und warum diese Perspektive für den politischen Liberalismus an sich so essenziell ist.

Selbst wenn die EU nur ein Geschäft wäre, sie wäre für Deutschland ein richtig Gutes!

Nach Berechnungen des Kieler Weltwirtschaftsinstituts profitiert Deutschland von seiner Mitgliedschaft in der EU durch eine höhere Wirtschaftsleistung von 173 Mrd Euro jedes Jahr. Zum Vergleich: der deutsche Nettobeitrag zum EU-Haushalt macht auch nach dem Brexit und mit den zusätzlichen Mitteln für den Wiederaufbaufonds ca. 20 Mrd Euro aus. Natürlich heißt das nicht, dass man die europäischen Mittel nicht sinnvoller ausgeben könnte. Natürlich müsste in der EU mehr in Digitalisierung, grenzüberschreitende Infrastruktur und Forschung investiert werden und weniger Geld in Agrarsubventionen fließen.

Trotzdem wundert mich die Härte der Kritik an der EU auch aus vermeintlich liberalen Kreisen immer wieder. Ja, man kann falsche Prioritätensetzung im Haushalt und unnötige Bürokratie kritisieren, aber sind die gleichen Probleme nicht auch zuhauf in der Bundesrepublik vorhanden? Wie viel unsinnige Politik wurde hier in den letzten Jahren beschlossen? Trotzdem wird nirgendwo die Mitgliedschaft in der Bundesrepublik in Frage gestellt – außer vielleicht in manchen Teilen Bayerns.

Schauen wir uns also das Beispiel an, was Europa durch Gurken- und Glühbirnenverordnungen seit Jahren in ein schlechtes Licht rückt: Das Bürokratiemonster Brüssel. Die EU hat durchaus die Angewohnheit, bei Normgrößen und Verbraucherschutzstandards sehr genau und manchmal zu genau hinzugucken. Vergessen wir aber nicht, dass der Hauptgrund dieser Gesetzesinitiativen oftmals die Harmonisierung 27 unterschiedlicher Märkte zu einem funktionierenden Binnenmarkt ist. Die eine europäische Regulierung ersetzt also 27 nationale Vorschriften. Der so entstehende Binnenmarkt ist das größte Entbürokratisierungsprojekt überhaupt.

Wer zurück zur EWG will, hat Wirtschaftspolitik nicht verstanden

Nun argumentieren manche, dass der Binnenmarkt ja schön und gut sei, aber man brauche dafür ja nicht die EU, sondern könne die Integration auf den Binnenmarkt und die europäische Wirtschaftsgemeinschaft zurückführen. Wer so denkt, hat moderne Wirtschafts- und Handelspolitik nicht verstanden. Der wirtschaftliche Vorteil der EU besteht gerade nicht nur in der Zollunion, sondern in den gemeinsamen Regeln des Binnenmarktes. Ein digitaler Binnenmarkt erfordert erst recht auch Regulierungen in anderen Bereichen. Wenn digitale Unternehmen sich auf jedes nationale NetzDG einstellen müssen, wird das volle Potential des Binnenmarkts nicht entfaltet. Das erfordert also auch europäische Regeln in anderen Bereichen als in der ganz klassischen Wirtschaftspolitik. Auch die freien Binnengrenzen in fast der gesamten EU sind ein erheblicher wirtschaftlicher Vorteil, aber das erfordert natürlich gemeinsames Handeln auch in anderen Bereichen. Wer würde denn ernsthaft die Notwendigkeit von stärkerer europäischer Kooperation bei der Kriminalitätsbekämpfung über die offenen europäischen Grenzen hinweg bestreiten wollen?

Ein weiterer von vielen liberalen EU-Kritikern aus meiner Sicht komplett übersehene Vorteil der EU ist das europäische Beihilferecht. Die EU-Kommission darf alle staatlichen Beihilfen darauf überprüfen, ob sie dem Wettbewerb in der EU schaden und wirklich im Interesse der Allgemeinheit liegen. Bei den vielen Subventionen, staatlichen Beteiligungen und Zuschüssen, die durch die EU-Kommission in den letzten Jahrzehnten in ganz Europa verhindert wurden, müsste eigentlich jeder Liberale Tränen der Freude in den Augen haben.

Die EU ist außerdem großer Antreiber des Freihandels und damit für die Exportnation Deutschland von besonders großem Wert. Die EU ist durch zahlreiche Abkommen mit mehr als 75 Staaten einem liberalen Freihandelsideal viel nähergekommen und hat mit ihrer Wirtschaftskraft für den Freihandel einen Einfluss wie kein anderer internationaler Akteur.

Die EU steht aber nicht nur für erfolgreiche Wirtschafts- und Handelspolitik. Sie ist auch was gesellschaftliche Freiheit angeht der größte Freiheitsraum auf der Welt. Die Werte von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit müssen wir auch in der EU noch entschiedener verteidigen. Ich kämpfe dafür jeden Tag im Europäischen Parlament. Bei diesem Thema gibt es viel zu tun und die Entwicklung der letzten Jahre ist erschreckend. Aber sehen wir auch, dass der schwule Jugendliche in Polen seine ganze Hoffnung in der EU sieht. Die in der Grundrechtecharta der EU niedergelegten Werte sind für viele Menschen in der EU der letzte Schutz für ihre Grund- und Bürgerrechte. Verteidigen wir diese Werte der EU noch entschiedener, in Ungarn, Polen und an den Außengrenzen der EU.

China ist die größte Bedrohung für den Liberalismus

Die EU ist besonders wichtig, wenn wir auf die Geopolitik schauen. Zwischen den USA und China brauchen wir ein starkes Europa, damit wir in Zukunft in der Welt überhaupt noch eine Rolle spielen. China ist die größte Bedrohung des liberalen Gesellschaftsmodells im 21. Jahrhundert. Mit seinem autoritären Führungsanspruch und seinem kollektiven Gesellschaftsverständnis versucht China immer größeren Einfluss in der Welt und auch in Europa zu bekommen. Wer hier die Zukunft im Nationalstaat sieht, dem ist nicht mehr zu helfen. Wer sich über die Bürokratie aus Brüssel beschwert, sollte eigentlich den Einfluss Pekings fürchten.

Wer die europäische Idee nur unter dem Blickwinkel eines illiberalen, geldverschwenderischen Bürokratiemonsters Brüssel betrachtet, der wird ihren Wert und ihren liberalen Kern nicht erkennen. Wer sich aber vor Augen führt, wie tief liberales Gedankengut in der EU verwurzelt ist, wie viele EU-Politiken dem liberalen Ideal so nahe kommen wie keine zuvor und wie viel Freiheit die EU bei voller Entfaltung ihres Potenzials noch ermöglichen könnte – der kommt nicht umhin, die Europäische Union als das zu sehen, was sie ist: Ein zutiefst liberales Projekt.

Mit Optimismus und Tatendrang Europa noch liberaler machen

Wir dürfen Kräften von rechts und links die Deutungshoheit über die Europäische Union nicht überlassen. Diese Union ist weder ein Zuhause für einen demokratischen Sozialismus noch für illiberale Demokratien. Auch wenn uns einige EU-Verordnungen vielleicht nicht in Freudentränen ausbrechen lassen, wir müssen den Fokus auf die notwendigen Verbesserungen legen. Nur wenn wir den in der EU fest verankerten Liberalismus anerkennen, können wir uns mit Optimismus und Tatendrang an die Reformen machen, die Europa noch liberaler machen.

Wenn wir die Europäische Union aufgeben und nicht mehr als liberal ansehen wollen, dann kann ihr Kern verformt und ausgetauscht werden. Die EU bietet uns eine einzigartige, wenn nicht die einzige Chance, dem politischen Liberalismus in einer globalisierten Welt weiterhin eine sichere Heimat zu geben. Also: Lasst uns die liberalen Werte wie Rechtstaatlichkeit in der EU endlich wieder durchsetzen. Lasst uns den Binnenmarkt noch weiter befreien und digital machen. Lasst uns den Haushalt der EU auf Zukunft ausrichten und gemeinsam in Forschung, Digitalisierung und grenzüberschreitende Infrastruktur investieren. Lasst uns in der Außenpolitik endlich entschlossener gemeinsam Handeln und unsere liberalen Werte selbstbewusst gegenüber autoritären Systemen vertreten. Machen wir nicht weniger als das Beste aus dem Projekt der Europäischen Union und geben wir der Freiheit die attraktivste Zukunftsperspektive unserer Zeit. Die Zukunft des Liberalismus liegt in Europa.


Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung des Gastautors wider.


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