Deutschland im Wandel – die neue Flexibilität

“Soziale Chancen in der alltäglichen Wirklichkeit der Gesellschaft” im Sinne der Freiburger Thesen zu fördern, geht nur, wenn man sich dem Wandel in einer veränderten Welt bewusst ist. Es gibt viel zu tun, um die Entwicklungschancen und Innovationspotenziale unserer Gesellschaft angemessen zu fördern und auszubauen.

Die Erde verändert sich. Ein gutes Zeichen, denn Freiheit lebt vom Wandel. Eine Gesellschaft, die sich nicht mehr weiterentwickelt, ist augenscheinlich kaum frei. Auch muss von einer positiven Entwicklung gesprochen werden: unsere Welt ist in den letzten 50 Jahren toleranter, gleichberechtigter, digitaler, gebildeter, demokratischer und ökologischer geworden. Es gibt weniger Zwangs- und Kinderarbeit, weniger Todesstrafen und eine niedrigere Kindersterblichkeit. Der Hunger sinkt und die Alphabetisierung steigt. Die gesundheitliche Versorgung breiter Schichten wird besser und die Löhne steigen. Lebten 1966 noch 50% der weltweiten Bevölkerung in absoluter Armut, sind es heute nur noch 9%. Der globale Fortschritt ist sichtbar, er ermutigt für die kommenden Jahrzehnte.

Doch während sich unsere Gesellschaft dynamischer entwickelt und dabei zunehmend an Komplexität gewinnt, scheinen Politik und Verwaltung schon lange nicht mehr den Ansprüchen einer sich immer schneller wandelnden Welt gerecht zu werden. Auf die Flexibilisierung der Gesellschaft muss die Flexibilisierung der Gesetze und Verwaltung folgen. Neue Antworten sind notwendig. Die Politik muss sich von den Werkzeugen des 20. Jahrhunderts lösen, um nicht zum Hindernis für die positiven Veränderungen des 21. Jahrhunderts zu werden.

“Die Politik (…) richtet sich an den Problemen der Menschen aus, die mit dem raschen Wandel der Gesellschaften leben und zurechtkommen müssen.” Was die klugen Reformpolitiker der neuen Mitte vor über 20 Jahren als Aufgabe ihrer Politik verstanden, muss heute einmal mehr vorangetrieben werden – in allen Bereichen. Bildungs-, Klimaschutz-, Sozialstaats-, Familien- und Wirtschaftspolitik – die neue Flexibilität, von der ich rede, wird notwendigerweise alle Institutionen verändern müssen, um so die Gesellschaft zu liberalisieren.

Schon der große Begriff der Arbeit ist ein gutes Beispiel, um die bestehenden Probleme zu analysieren. Denn während individuelle Lebenswege unterschiedlicher werden, sind Gesetze und Institutionen auf ein konservatives Bild des arbeitenden Menschen ausgerichtet. Mit 16 Realschulabschluss oder ein wenig später Abitur, danach Ausbildung oder Studium, um dann nach 40 Jahren Arbeit als Angestellter im gleichen Job mit 64 oder ein wenig später in Rente zu gehen. Der hier gezeichnete Lebensweg, auf den politisches Handeln zugeschnitten scheint, war schon im letzten Jahrhundert veraltet und auf viele Menschen nicht mehr anwendbar. Im 21. Jahrhundert unterdrückt der monothematische Blick auf die Arbeitswelt die Entwicklungschancen einer wachsenden Gruppe von Menschen.

Der erste Fehler rückwärtsgewandter Arbeitsmarktpolitik ist, auf die Frage “Wie arbeiten wir?” nur eine pauschale Antwort zu kennen: als Angestellter. Vollzeitbeschäftigte, (Klein-)Unternehmer, Künstler, Neben- und Minijobber – die unterschiedlichsten Lebensrealitäten müssen als Teil unserer modernen Gesellschaft akzeptiert und gefördert werden. In Deutschland gelingt das nicht, insbesondere Selbstständigen werden von der Politik Steine in den Weg gelegt. Von der langsamen Unternehmensgründung bis zur unübersichtlichen Steuererklärung – der Schotterweg der deutschen Bürokratie hemmt das Potenzial der kreativsten Köpfe im Land. Die Vernachlässigung von Selbstständigen und Künstlern, die sich in der Corona-Krise abermals zeigt, muss enden. An ihre Stelle muss eine Politik der neuen Flexibilität treten, die alle arbeitenden Menschen in der Gesellschaft begünstigt und die Möglichkeiten des Arbeitens erweitert. Die von Kreativität, Eigeninitiative und Unternehmertum ausgehende Innovationskraft muss wieder aktiv gefördert werden, eine neue Aufbruchsstimmung muss das Leben nach der Krise bestimmen. Zick-Zack-Biographien, der Wechsel zwischen Selbstständigkeit und Anstellung oder die Mischung aus beidem stehen symbolisch für die Veränderung des Arbeitsmarktes.

Der zweite Fehler innovationsloser Arbeitsmarktpolitik ist, auf die Frage “Wo und wann arbeiten wir?” nur eine pauschale Antwort zu kennen: von 8 bis 16 Uhr im Büro. Wo ständen wir heute, wenn wir ein zeitgemäßes Homeoffice-Gesetz wie in den Niederlanden hätten? Solche Fragen müssen gestellt werden, nicht nur wenn man bedenkt, dass Büros ein entscheidender Pandemietreiber sind. Dabei wirkt die Corona-Krise nur als Katalysator für einen allgemeinen Trend weg vom Büro, hin zu mehr Heimarbeit. Grundsätzlich eine positive Entwicklung, denn durch weniger Pendelei wird Zeit gespart und gleichzeitig Verkehr und Umwelt entlastet. Leerstehende Büros könnten Platz für fortschrittliche Coworking-Spaces und neuen Wohnraum machen, und so für niedrigere Mieten und eine kreative Innenstadt sorgen.

Damit solche Vorstellungen zur Realität werden, müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen der neuen Arbeitswelt angepasst werden. Ein Rechtsanspruch auf Home-Office, sofern möglich, ist nur ein Aspekt. Insbesondere moderne Arbeitszeitgesetze sind eine notwendige Voraussetzung. Arbeitsschutzvorschriften müssen modernisiert werden, auch eine Abkehr von täglicher Höchstarbeitszeit hin zu wöchentlicher Höchstarbeitszeit ist folgerichtig und passt sich den Lebensrealitäten von alleinerziehenden Eltern und Studenten an. Es ist schlichtweg nicht erklärbar, warum es als Angestellter de jure illegal ist, um 22:00 Uhr noch letzte Mails zu beantworten, wenn man am nächsten Tag um 9:00 Uhr wieder mit der Arbeit beginnt. Eine Politik der neuen Flexibilität sieht eine Diversifizierung der Arbeitsorte und eine Modernisierung der Arbeitsgesetze als Chance, um berufliche Verpflichtungen und Privatleben noch besser in Einklang zu bringen.

Der dritte Fehler kleingeistiger Arbeitsmarktpolitik ist, nicht zu verstehen, dass sich Antworten auf die Frage “Als was arbeiten wir?” mit der Zeit verändern. Das Konzept sein ganzes Leben an einem einzigen Arbeitsplatz zu verharren, gehört der Vergangenheit an. Auch muss Schluss damit sein, dass man auf die “schöpferische Kraft der Zerstörung” der Marktwirtschaft mit einer veralteten Industrie- und Subventionspolitik antwortet. Statt veraltete Jobs künstlich am Leben zu halten, müssen Weiterbildungen und lebenslanges Lernen endlich ins Blickfeld der Politik rücken. Johannes Vogel (FDP) hat recht, wenn er betont, dass in unserer Gesellschaft “Aufstiegschancen nicht nur im ersten Lebensdrittel verteilt werden sollten”.

Betriebliche Weiterbildungen, ein zweites Studium oder eine neue Ausbildung, gefördert durch ein Midlife-BAföG, werden zur Realität für alle die, deren Existenz durch die Menschheitsaufgabe der Dekarbonisierung und die voranschreitende Automatisierung bedroht ist. Angst vor der Zukunft hat nur, wer fürchtet, seinen ursprünglichen Lebensstandard zu verlieren. Der Teil der Gesellschaft, der unter dem anziehenden Tempo der Moderne leidet und leiden wird, verdient unsere Unterstützung. Eine Politik der neuen Flexibilität ist sich der Wichtigkeit von guter Arbeit bewusst und zielt in Zeiten des Wandels darauf ab, Betroffenen schon frühzeitig den Weg zu neuen Arbeitsmöglichkeiten zu ebnen.

Auch der deutsche Sozialstaat muss endlich im 21. Jahrhundert ankommen. Weg vom Gefrierschrank der Bürokratie hin zu modernen sozialstaatlichen Institutionen, die Entfaltungschancen bieten und den Lebensrealitäten unterschiedlicher Menschen entsprechen. Das fängt schon bei der Rente an: Wie wird ein festes Renteneintrittsalter unterschiedlichen Lebenswegen noch gerecht? Warum machen wir es nicht wie Schweden? Den Zeitpunkt des Eintritts in den Ruhestand entscheidet der Einzelne dort individuell und es funktioniert. Frühestens geht es mit 61 in Rente und wer mit 68 noch arbeiten will, dem ist das auch erlaubt – in Deutschland wird sich währenddessen der Kopf darüber zerbrochen, was denn nun das perfekte Renteneintrittsalter sei.

Zusätzlich muss an einer Renovierung der Grundsicherung gearbeitet werden. Die sozialstaatliche Absicherung in allen Lebenslagen ist eine der großen zivilisatorischen Errungenschaften des letzten Jahrhunderts – entsprechend geht es nicht um eine Kürzung der Leistungen. Viel mehr muss der Sozialstaat wieder den Menschen dienen, und keiner wachsenden Bürokratie. Wenn Empfänger im Dschungel bürokratischer Abläufe die Orientierung verlieren, nimmt man ihnen unweigerlich die Hoffnung auf ein besseres Leben abseits der sozialstaatlichen Abhängigkeit. 

Die Zusammenfassung aller Sozialleistungen ist der richtige Schritt, um die Gängelung Bedürftiger zu beenden. Auch müssen die Zuverdienstmöglichkeiten entsprechend angepasst werden – veraltete Regelungen machen den Transferbezug weiterhin attraktiver als den Weg in die Unabhängigkeit und ketten gleichzeitig Kinder aus Hartz-IV-Familien an die sozialen Verhältnisse ihrer Eltern. Die Auswirkungen des Strukturwandels auf den Arbeitsmarkt zu ignorieren, wäre fatal. Gleichzeitig darf der Wandel nicht aufgehalten werden. Sozialstaatliche Maßnahmen werden die Probleme des Übergangs, etwa wegfallende Jobs, abfedern müssen. Wir brauchen einen besseren Sozialstaat, der einer modernen Arbeitswelt gerecht wird und auf die Schaffung von Chancen für Betroffene abzielt. 

Eine Politik der neuen Flexibilität ist eine Mischung aus der liberalen Einsicht, dass sich individuelle Bedürfnisse unterscheiden, und einem gesunden Pragmatismus, der auf die Erweiterung von Lebenschancen abzielt. Wie bereits angesprochen, muss an die Stelle der deutschen Unbeweglichkeit ein optimistischer Reformgeist treten. Nicht bloß in arbeitsmarktspezifischen und sozialpolitischen Fragen, in allen Bereichen braucht es einen neuen Mut zum Wandel. Weg vom tous les mêmes hin zum à ta façon. In einer diversen Welt der unterschiedlichsten Lebenswege reicht es nicht mehr, die Gesellschaft nach einer Schablone zu formen. Die Aufgabe moderner Politik muss es sein, um es mit dem liberalen Intellektuellen Ralf Dahrendorf zu sagen, “dass wir Türen und Fenster weit aufmachen und die Räume in bunteren Farben streichen (…), ohne das Recht des einzelnen in Frage zu stellen, ohne Furcht darinnen zu leben.

Das beginnt mit Familienpolitik, die das traditionelle Bild der Familie mit Mann, Frau und Kind als nur eines von vielen möglichen Modellen der Erziehung betrachten sollte. Mehrelternschaften, zum Beispiel von lesbischen Mütterpaaren und dem leiblichen Vater, sind immer öfter Realität und müssen gesetzlich verankert werden. Somit könnten zudem Adoptionen für Stiefeltern ermöglicht werden, ohne dass dabei die leibliche Mutter oder der Vater als Elternteil entfernt werden. Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien, Alleinerziehende müssen beachtet werden, auch die neue Rolle der emanzipierten Frau und die gerechte Betreuung von Trennungskindern sind entscheidende Komponenten.

Neue Flexibilität bedeutet ebenso, sich in der Wohnungsbaupolitik davon zu lösen, alles bis in kleinste Detail planen zu wollen. Höhere Wohnungen, Nachverdichtungen, die Entferung von regularischen Kostentreibern ohne Mehrwert – sozial ist, was Wohnraum schafft und damit die Preise drückt. In diesem Sinne muss auch Schluss mit der spießbürgerlichen not in my backyard-Attitüde sein, unter deren Auswirkungen insbesondere Geringverdiener leiden. Dümmer als die Blockade der Randbebauung des Tempelhofer Felds ist in Berlin womöglich nur noch der Mietendeckel – ersteres führt immerhin nicht zu weniger Wohnraum.

In eine ähnliche Richtung geht es in der Migrations-, Klima- oder Wirtschaftspolitik. Überall dort, wo die Möglichkeiten der Allgemeinheit unter einseitigen Gesetzen oder lähmenden Bürokraten leiden, setzt eine Politik der neuen Flexibilität an. “Soziale Chancen in der alltäglichen Wirklichkeit der Gesellschaft” im Sinne der Freiburger Thesen zu fördern, geht nur, wenn man sich dem Wandel in einer veränderten Welt bewusst ist. Es gibt viel zu tun, um die Entwicklungschancen und Innovationspotenziale unserer Gesellschaft angemessen zu fördern und auszubauen. 

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