Sechs Jahre rechter Protest

Pegida als Teil des Dresdner Alltags

Wie lebt es sich neben und mit der größten Protestbewegung der Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung? Unser Redakteur Daniel (16) und Stefan Scharf (35, FDP) stammen beide aus Dresden und sprechen über Pegida, Liberalismus und die Normalität des Rechtsextremismus in Dresden, Sachsen und Ostdeutschland.

Daniel: Am 25. Oktober wollte Pegida – bis zur Absage am 16. Oktober von Lutz Bachmann – zum sechsten Mal in Dresden Geburtstag feiern. Zum zweiten Mal wird die FDP zusammen mit der CDU und der Sächsischen Bibliotheksgesellschaft dagegen auf die Straße gehen. Für keepitliberal.de wollte ich einen Einblick in Pegida geben, ohne genau zu wissen, wo man anfangen oder aufhören soll. Ich bat Stefan um Hilfe. Er war in einem der ersten Teams der TU Dresden, die bei Pegida Umfragen durchführten. Seit dem Herbst 2014 hat sich Pegida oft verändert, wurde vor allem radikaler. Im Februar 2020 veranstalteten FDP und CDU mit Unterstützung von Sächsischer Bibliotheksgesellschaft, Katholischer Kirche in Sachsen, Evangelisch-Lutherischer Landeskirche Sachsen, sowie dem Landesverband Sachsen der Jüdischen Gemeinden dann erstmals eine Gegendemo. Wie erfolgreich, denkst du, war diese erste Demo?

Stefan: Gute Frage, Daniel. Ich denke, es war wichtig, dass die beiden Parteien erstmals eigenständig ihren Protest ausdrückten. Es kann nicht angehen, dass wir uns in Dresden daran gewöhnt haben, dass die Kanzlerin aufs Vulgärste beleidigt wird oder unser Oberbürgermeister mit dem Tode bedroht wird. Wir müssen auch auf der Werteebene klarmachen, für was wir Politik machen. Vor einigen Jahren meinte ich mal, dass Dresden manchmal eine „liberale Schlammzone“ sein kann. Dass man sich hier mehr strecken muss, um zu erreichen, was andernorts selbstverständlich erscheint. Die hohen Wahlergebnisse für rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien haben wir auch nicht erst seit Pegida. Wir vergessen vielleicht zu schnell, dass die NPD hier 2004 bis 2014 im Landtag saß. Und 2014 fehlten ihr weniger als tausend Stimmen für den Wiedereinzug. Das alles, obwohl die junge AfD aus dem Stand knapp zehn Prozent der Stimmen erhielt.
In der Rückschau blieben wir beim Rechtsextremismus zu lang zu leise. Oder wir sprachen über Neonazis als Klischee in Springerstiefeln und mit Glatze, aber stets als Randphänomen. Der NSU und seine Opfer? Das war irgendwie immer weit weg.

Daniel: Ich glaube, du sprichst hier einen sehr wichtigen Punkt an. Ich war damals zwar noch sehr jung, aber wenn ich mich richtig erinnere, war der Höhepunkt von Pegida um den Jahreswechsel 2014/15, oder?

Stefan: Genau. Am 12. Januar 2015 brachte Pegida laut Polizei 25.000 Menschen auf die Straße.

Daniel: Zu diesem Zeitpunkt kam ich das erste Mal mit Pegida in Kontakt. Ich war damals im Internat eines bekannten Dresdner Knabenchores. Nach dem Tischgebet am Abend hielt der Internatsleiter eine kleine Ansprache und wünschte den Demonstranten in der Stadt viel Kraft. Er meinte die Gegendemonstranten, „nicht die rechten Spinner“. Meine Mutter bat mich, montags die Innenstadt zu meiden. Damals war ich elf. In dem Alter kann man so etwas gar nicht greifen, ich verstand nicht, was die Erwachsenen meinten, wo das Problem war.

Stefan: Habt Ihr das Thema denn sonst im Schulunterricht behandelt?

Daniel: Nein, wobei mir kein Anlass einfällt, wo wir darüber hätten sprechen können. Am ehesten noch in Gemeinschaftskunde, aber das Fach habe ich erst seit zwei Jahren und die waren vor allem mit allgemeinem Staatsaufbau, unserem Rechtssystem und wirtschaftlichem Grundlagenwissen gefüllt. Ich könnte mir aber vorstellen, dass mit dem Wechsel in die Oberstufe, weg vom Frontalunterricht, hin zu einer diskussionsorientierten Lernsituation, solche Themen im Unterricht mehr Beachtung geschenkt wird.

Stefan: Mich wundert es, dass es bisher gar nicht dran kam. Immerhin prägte es die Wahrnehmung der Stadt mit. Hättest du dir eine Behandlung im bisherigen Unterricht gewünscht?

Daniel: Ja, definitiv. Das Thema Extremismus und besonders Rechtsextremismus wird noch zu sehr vernachlässigt. Vor allem ideologische Grundlagen, Nährboden für rechtsextremistisches Gedankengut und vor allem Aufklärung sollte Thema im Unterricht sein.

Stefan: Findet das Thema in Deinem persönlichen Umfeld statt? Gibt es Rassismus an der Schule oder im privaten Umfeld oder womöglich Streit, weil jemand zu Pegida ging oder geht?

Daniel: Meine Schule achtet sehr auf Weltoffenheit und Toleranz. In meinem näheren Umfeld kenne ich keinen, der je bei Pegida war.

Stefan: Und zum Gegenprotest? Oder war das Thema einfach weit weg?

Daniel: Der vorhin erwähnte Internatsleiter ging – glaube ich – ein paar Mal zum Gegenprotest. Aber ansonsten kenne ich keinen, der am Gegenprotest teilnahm. Aber das kann auch daran liegen, dass das Thema einfach totgeschwiegen wurde, so als wäre Dresden nicht regelmäßig deswegen in den bundesweiten Nachrichten. Aber vielleicht war ich auch einfach zu jung und habe von dem Ganzen deshalb so wenig mitbekommen. Was natürlich verständlich wäre, denn einen Zwölfjährigen interessiert das Thema nicht wirklich, zumindest hat es mich nicht interessiert, gleiches bei meinen Mitschülern. Ich wusste nur, montags trafen sich sehr viele Leute in der Stadt und deswegen sollte ich mich davon fernhalten, mehr aber auch nicht. Du hattest an der TU Dresden zu Pegida mitgeforscht. Wie hast du das Thema in den letzten Jahren erlebt?

Stefan: Es gab immer wieder Gespräche mit Verwandten, Freunden und Bekannten. Das Thema wurde ja auch intensiv in der FDP Dresden diskutiert. Durch Pegida rückten Rechtspopulismus wie Rechtsextremismus im Allgemeinen viel mehr in mein Sichtfeld. Und immer auch die Frage nach der Vermutung, das sei typisch für Sachsen oder Ostdeutschland im Allgemeinen. Dieser Vorwurf hat auch sehr an den Dresdnern gezerrt. Zuvor – in den 1990er und Nullerjahren – waren das halt die Glatzen mit Bomberjacke, die nichts mit sich anzufangen wussten. Man wusste, dass es sie gab, aber sie spielten keine größere Rolle. Mit Pegida ab 2014/15 und dem Wahlerfolg der AfD 2017 wurde aber deutlich, wie anschlussfähig rechtsextremes Gedankengut war. Man braucht nichts schönzureden, wenn jeden Montag mal zweitausend, mal zwanzigtausend Menschen eine „Islamisierung des Abendlandes“ neben der wiedererbauten Frauenkirche heraufbeschwören. Oder wenn Verschwörungsmythen verbreitet werden und Journalisten, Politikern und anderen der Tod gewünscht wird.

Daniel: Pegida, von Rechtsextremisten organisiert und regelmäßig mit rechtsextremen Rednern, läuft jetzt seit sechs Jahren durch Dresden. Gab es für dich ein einschneidendes Ereignis in der Zeit?

Stefan: Mein Hoch- und gleichzeitig Tiefpunkt war der Wahlabend zur Bundestagswahl 2017. Als Liberale hatten wir den Wiedereinzug in den Bundestag mit dem zweitbesten Ergebnis seit der Wiedervereinigung geschafft. In den beiden Dresdner Wahlkreisen erzielten wir sogar das erst- und zweitbeste Ergebnis in Ostdeutschland. Aber in meinem Wahlkreis, Dresden Ⅰ, gelang Jens Maier (AfD), damals Richter am Landgericht, mit 22 Prozent fast die Direktwahl für den Wahlkreis. Fast jede vierte Stimme erhielt ein Politiker, der engen Kontakt zu NPD-Anhängern pflegte, der für den 60-fachen Massenmord des norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik Verständnis fand und sich 2016 stolz als „Klein-Höcke“ bezeichnete. Mit den Worten des Dresdner Malers Max Liebermann dachte ich mir: „Ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen möchte.“

Daniel: Mir kommt es so vor, als ob das Thema einfach verharmlost wurde. Man sprach ja oft von „besorgten Bürgern“ statt von Rechtsextremisten.

Stefan: Es gab einen Hang, diese rechtsextremistischen Gedanken zu banalisieren. Völlig richtig. Da galt vieles als derb, vulgär und dumm, aber nicht als politisch oder Teil einer rechtsextremen Ideologie. Ich finde es aber grundfalsch, Leute für dumm zu erklären, bloß, weil sie mit einer Hasskappe im Kreis laufen.

Daniel: Wenn der Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, und das sächsische Innenministerium den Pegida-Organisator Lutz Bachmann zum Beispiel als Rechtsextremisten bezeichnen, aber gleichzeitig im sächsischen Verfassungsschutzbericht nur von „montäglichen nicht-extremistischen Pegida-Veranstaltungen“ die Rede ist, dann erkennt man die langjährige Verharmlosung der Bewegung. Vor allem auch unter dem Gesichtspunkt, dass die Redner zum großen Teil aus der rechtsextremen Spektrum stammen, wie der Sprecher der österreichischen Identitären Bewegung Martin Sellner, der Thüringer AfD-Vorsitzende und ehemalige Flügel-Frontmann Björn Höcke oder auch der von dir vorhin schon erwähnte Jens Maier.

Stefan: Das teile ich.

Daniel: Pegida hat seinen sechsten Geburtstag jedenfalls letzte Woche abgesagt …

Stefan: Großartig, oder?

Daniel: Gab es das schon einmal?

Stefan: Nicht, dass ich wüsste.

Daniel: Wie kam es dazu?

Stefan: Ich spüre 2020 einen Wandel. Die Wahl Kemmerichs im Februar hat Konservative und Liberale unmittelbar damit konfrontiert, wie die Rechtsextremisten erfolgreich unsere demokratischen Prozesse ad absurdum führen können. Der neurechte Vordenker Götz Kubitschek sprach in dem Zusammenhang von einem Schachzug Höckes mit der „Schachfigur Kemmerich“. Es ging um maximale Störung der Prozesse, nicht um demokratische Alternativen. Ich erfuhr eine Woche vor seinem Auftritt, dass sich Höcke für dieses Manöver in Dresden feiern lassen wollte und unser ad-hoc-Team begann am Mittwoch nach ersten knappen Absprachen mit der Planung. Den ersten Gegenprotest von CDU und FDP zusammen mit der Sächsischen Bibliotheksgesellschaft stellten wir binnen fünf Tagen auf die Beine. Ich war erleichtert, und auch etwas stolz auf unseren Erfolg. Aber schon zwei Tage später ermordete ein Rechtsterrorist in Hanau erneut zehn Menschen, bevor er sich selbst richtete.

Daniel: Wie wolltet ihr danach weitermachen?

Stefan: Wegen Corona erlebte das Demo-Geschehen in Dresden diverse Einschränkungen. Dennoch oder gerade wegen der fehlenden Aufmerksamkeit wurde deutlich, dass sich Pegida weiter radikalisierte und seit März geriet auch die AfD von Seiten des Bundesamts für Verfassungsschutz immer mehr in den Fokus. Im Sommer überlegten wir, wann und wie wir unseren Protest fortsetzen wollten. Ab August zeichnete sich der Jahrestag Pegidas als nächster Termin des Bündnisses Demokratie braucht Rückgrat ab.

Das mehrheitlich linke Bündnis Herz statt Hetze protestiert schon seit mehreren Jahren, aber ich denke, es war wichtig, dass nun alle Seiten des demokratischen Spektrums sicht- und hörbaren Widerspruch gegen Pegida anmelden.

Daniel: Soll sich der bürgerliche Protest jetzt dauerhaft etablieren oder wird nur zu besonderen Anlässen zum Gegenprotest aufgerufen werden?

Stefan: Wir werden uns vornehmlich auf besondere Anlässe fokussieren. Das heißt gleichzeitig nicht, dass wir es dabei belassen. Wir stellen einen großen Zuspruch bei vielen Bürgerinnen und Bürgern wie auch Vereinen und Institutionen zu dem Thema fest. Warum sollten wir also nicht weitere Möglichkeiten suchen, um uns für ein besseres Miteinander in Dresden einzubringen? Wichtig ist vor allem, dass Pegida gezeigt wird, wer die Mitte der Gesellschaft repräsentiert.
Pegida ist sechs Jahre alt, der Einzug der NPD 14 Jahre her: Wo soll Dresden in sechs oder zehn Jahren stehen, wenn es nach Dir geht?

Daniel: Ich habe mal erlebt, wie ich mich im Urlaub für Dresden rechtfertigen musste. Das möchte ich in Zukunft nicht mehr erleben, da Dresden für so viele wunderbare Dinge bekannt sein könnte, anstatt mit Nazis assoziiert zu werden. Deshalb lohnt es sich für ein weltoffenes, tolerantes Dresden zu kämpfen.


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