21 Tage im Leben von Elfriede

Antisemitismus ist in Deutschland ein Problem. Unser Gastautor zeigt es mit einer eindrücklichen Chronik – über einen Zeitraum von nur 21 Tagen.

Nehmen wir mal an, eine jüdische Person in Deutschland – nennen wir sie Elfriede – würde sich ausschließlich mit dem Hass, der Ablehnung, der Dämonisierung, den Beschuldigungen und der Gewalt sich und anderen jüdischen Menschen gegenüber beschäftigen. Für Elfriede sähen die vergangenen drei Wochen – ja, wirklich nur 21 Tage – ungefähr so aus: Bundesinnenminister Horst Seehofer konstatiert im Bericht über politisch motivierte Kriminalität, dass antisemitische Straftaten 2020 bundesweit im Vergleich zum Vorjahr um rund 16% gestiegen sind.1 Ein wenig früher stellt die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Berlin in ihrem Bericht zu antisemitischen Vorfällen im Jahr 2020 einen ähnlich hohen Anstieg für Berlin fest. In Bayern sieht die RIAS sogar einen Anstieg von über 30%.2 Im Gegensatz zur Kriminalstatistik des BMI nimmt die RIAS auch antisemitische Vorfälle mit in die Statistik auf, die nicht zur Anzeige gebracht wurden – in Berlin gab es davon im Jahr 2020 über 1000, also fast drei am Tag.3

Währenddessen konnte sich unsere jüdische Beispielperson Elfriede in der ARD eine rbb-Reportage über Extremismus im Rap anschauen.4 Conclusio: Extremismus ist im Deutschrap weit verbreitet. Ob nun rechtsextrem oder islamistisch, einigendes Merkmal ist der Hass auf Jüdinnen und Juden. Möglicherweise denkt Elfriede, dass es sich hier nur um ein paar Einzelfälle handeln kann – und just in dem Moment erscheint eine Studie der Universität Bielefeld, die Elfriede bestätigt: Sogenannter Gangsta-Rap fördert unter Jugendlichen antisemitische Einstellungen.5 Grund zur Freude hat Elfriede, weil der „Al-Quds-Marsch“, bei dem Anhänger der Hisbollah und des iranischen Regimes normalerweise jedes Frühjahr in Berlin für das Ende Israels demonstrieren, dieses Jahr abgesagt wurde. Die Freude weilt aber nur kurz: Der Hassmarsch wurde nicht abgesagt, weil plötzlich niemand mehr Lust darauf hat, mit terrorverherrlichenden und antisemitischen Parolen über den Kurfürstendamm zu ziehen, sondern wegen der Befürchtung der Organisierenden, die Corona-Auflagen nicht durchsetzen zu können. Währenddessen wundert sich Elfriede, wie doch allgemein ganz gut gebildete Politikerinnen und Politiker offensichtlich antisemitische Codes wie „Globalisten“ plötzlich nicht mehr als solche erkennen.

Und dann fliegen in Israel und dem Gazastreifen wieder mal Raketen, rund 2900 Kilometer von Elfriede entfernt. Sie ahnt, dass diese Entfernung keinen Unterschied machen wird. Und tatsächlich, innerhalb von zwei Tagen wird eine Synagoge in Deutschland mit Steinen beworfen, vor einer anderen werden Israel-Flaggen verbrannt und vor einer dritten stimmt eine Gruppe „pro-palästinensischer“ Demonstranten lautstark einen „Scheiß-Juden“-Sprechchor an. Keine der Synagogen steht in Elfriedes Wohnort, aber das kann sich schnell ändern.

Glücklicherweise hat Elfriede, so wie die überwältigende Mehrheit der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden, auch ganz andere Dinge in ihrem Leben zu tun, als Berichte über Judenhass in seinen verschiedenen Erscheinungsformen zu lesen. Wenn sie nicht eines der Opfer des täglichen stattfindenden Antisemitismus – ob tätlich auf der Straße, als Pöbelei im Supermarkt, als Hasstirade im Internet – geworden ist, dann waren auch diese drei Wochen der Antisemitismus-Festspiele „nur“ ein Grundrauschen für Elfriede. Ein Grundrauschen, das sie gut kennt. Nicht, weil der Antisemitismus plötzlich in ihr Leben kam und sie sich daran gewöhnt hat. Sie kannte es nie anders. Obwohl sie öffentlich noch nicht mal als Jüdin erkennbar ist, ist ihr die Gefahr, als Jüdin in Deutschland zu leben, schon im mit doppelter Schranke, von israelischen Sicherheitsleuten und Polizei geschützten Kindergarten, klar gemacht worden. Sie ist also weder überrascht noch schockiert, wenn sie von antisemitischen Vorfällen, Statistiken und Einstellungen hört oder liest. Sie kann sich den Aussagen über den „erstarkenden Antisemitismus“ auch nicht anschließen – der Hass auf sie und ihre Mitjüdinnen und -juden wird nicht stärker. Stark war er schon immer. Er wird nur offensichtlicher und leichter geäußert. Ein antisemitischer Hasskommentar auf Facebook ist schnell getippt, eine Synagoge als Ort für die Äußerung von Israelkritik leicht gefunden. Die Corona-Pandemie ist für viele anscheinend ein weiterer und neuer guter Grund, sich antisemitische Verschwörungsideen zu eigen zu machen. Und zwar schon lange nicht mehr nur grölende Neonazis, gewalttätige Islamisten oder Israel-hassende Linksterroristinnen, sondern die Busfahrerin, der Physiotherapeut, der Lehrer oder die Anwältin, die im gleichen Haus wohnen oder denen man sonst im Alltag begegnet.

Was Elfriede aber sehr wohl Sorgen bereitet, ist die offensichtliche Abwesenheit eines Konsens, der eigentlich klar sein müsste: Jeder Antisemitismus ist Antisemitismus. Es darf keine Rolle spielen, ob er von den extremen Rändern oder aus der „Mitte der Gesellschaft“ kommt. Der Hass auf einen Teil der Gesellschaft darf kein Politikum sein und als solches genutzt werden. Nur, weil es opportun ist, kann man den Antisemitismus der jeweils „anderen“ nicht brandmarken, um ihn dann in den eigenen Reihen zu ignorieren oder kleinzureden. Ohne die Klarheit, dass Antisemitismus in jeder Form, egal, woher er kommt, zu verurteilen und zu bekämpfen ist, wird unsere Gesellschaft dieser demokratiefeindlichen Ideologie nichts entgegensetzen können.

Was alle Antisemitinnen und Antisemiten vereint, ist ihre Ablehnung demokratischer und freiheitlicher Werte. Elfriede will gar nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, sondern eigentlich nur ihr ganz normales Leben leben. Im ersten Moment ist der Hass auf Jüdinnen und Juden natürlich gegen sie gerichtet. Ob Antisemitismus gedeihen kann, ist auf den zweiten Blick aber ein Indikator für die Gesundheit der Demokratie und des friedlichen Zusammenlebens in einer Gesellschaft. Ganz unabhängig davon, ob man jüdisch ist oder nicht, sollten alle, denen daran etwas liegt, sich gegen jeden Antisemitismus stark machen, meint Elfriede.


Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung des Gastautors wider.


Gastautor
  1. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2021/05/vorstellung-pmk-2020.html[]
  2. https://www.juedische-allgemeine.de/politik/mehr-antisemitische-vorfaelle/[]
  3. https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-04/antisemitismus-vorfaelle-berlin-judentum-rechtsextremismus-diskriminierung?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com[]
  4. https://www.rbb-online.de/doku/s-t/schattenwelten-berlin/schattenwelten-berlin-wie-zweifelhafte-weltbilder-in-den-deutschen-hip-hop-kommen.html[]
  5. https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/erziehungswissenschaft/zpi/projekte/antisemitismus-gangsta-rap/[]

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