Der Exekutivfetischismus hat versagt

Über neun Monate nach der ersten bestätigten Coronavirus-Infektion in Deutschland kommt die Ministerpräsidentenkonferenz auf die Idee, Risikogruppen mit FFP2-Masken auszustatten. In den Schulen gibt es kaum Hygienemaßnahmen. Stattdessen wird ein Lockdown mit furchtbaren Kollateralschäden beschlossen. Eine Tragödie.

Am 16. November 2020 war es wieder so weit: Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten kamen online zur Ministerpräsidentenkonferenz zusammen, um im telekommunikativen Hinterzimmer über die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie zu beraten. Das Kanzleramt hatte sich im Vorfeld drastische Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen auf einen einzelnen festen Haushalt ausgedacht. Glücklicherweise konnten sich die Ministerpräsidenten an dieser Stelle durchsetzen, sodass lediglich eine „Empfehlung“ ausgesprochen wurde.

Doch darum soll es hier nicht in erster Linie gehen. Merkels verzweifelter Schrei nach immer härteren Maßnahmen ist nämlich lediglich Symptom einer Politik, die sich seit März in Deutschland breitgemacht hat. Einer Politik des Exekutivfetischismus, des Hinterzimmerverhandelns und der Ignoranz gegenüber demokratisch gewählten Volksvertretern in den Parlamenten. Prominentester Vertreter dieses neuerdings populären Politikstils ist Markus Söder, der Ministerpräsident des Freistaats Bayern. Aber nahezu alle Landesregierungen und gerade auch die Kanzlerin schlagen in diese Kerbe.

Winterschlaf im Sommer

Dass die Fallzahlen im Herbst und Winter steigen würden, wusste jeder. Insbesondere die Regierungen mussten es wissen. Nichtsdestotrotz war man scheinbar nicht in der Lage, sich über den Sommer – mit sehr geringen Zahlen und langer Vorlaufzeit – auf die kälteren Monate einzustellen. Kurzfristig gab es zwar Testzentren für Reiserückkehrer an den Flughäfen, jedoch für die meisten Bundesländer eigentlich schon zu spät. Über weitere strategische Konzepte schien man sich jedoch keine Gedanken zu machen.

Dass man ein Klassenzimmer im Winter nicht wie im Sommer würde lüften können, müsste selbst den praxisfernsten Kultusministern klar gewesen sein. Dennoch schaffte man es nicht in einem einzigen Bundesland, flächendeckend Raumlüftungsgeräte zu installieren, Konzepte zur Klassenteilung zu entwickeln oder Ähnliches. Schülerinnen und Schüler sowie das Lehrpersonal fühlen sich zurecht allein gelassen.

Auch zur Entwicklung einer Teststrategie war man offenbar nicht in der Lage. Scheinbar waren nach Ende der Sommerferien die Schüler die einzigen, die sich über anstehende Tests Gedanken machten. Weihnachten im größeren Familienkreis durch vorherige Testmöglichkeiten ermöglichen? Freizeitsport mit Antigen-Schnelltests vor Wettkämpfen aufrechterhalten? Besucher in Senioreneinrichtungen vor dem Besuch kurz zum Schnelltest bitten? Nicht zuletzt Pooltests für Schulklassen und Lehrpersonal? Fehlanzeige. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn lieferte diesbezüglich nicht einmal ernsthafte Ideen.

Viele Köche verderben den Brei? Im Gegenteil!

Nicht nur aus rein politikpraktischer, auch aus demokratietheoretischer Sicht versagten die Regierungen auf ganzer Linie. So wurde etwa die „Epidemische Lage nationaler Tragweite“ den ganzen Sommer über aufrechterhalten. Das ist nicht etwa kritikwürdig, weil die Pandemie vorbei gewesen wäre – sondern weil sie zahlreiche Befugnisse des Parlaments auf den Bundesgesundheitsminister übertrug und somit die Kontrolle durch die gewählten Volksvertreter massiv einschränkte. In den meisten Landesparlamenten lief es ähnlich – parlamentarische Beteiligung gab es nur in homöopathischen Dosen. Positivbeispiel ist ausgerechnet das rot-rot-grün regierte Thüringen, in dem die Corona-Verordnungen unter Parlamentsvorbehalt gestellt wurden.

Doch das Strucksche Gesetz besagt nicht umsonst: „Kein Gesetz verlässt den Bundestag, wie es hineingekommen ist.“ Die Parlamente haben keine bloße Abnickfunktion für Regierungsvorschläge, sondern sind essentieller Bestandteil der Entwicklung tragfähiger gesetzlicher Lösungen für Probleme und Herausforderungen. Durch Expertenanhörungen in Ausschüssen können Gesetze auf Herz und Nieren geprüft und entsprechend überarbeitet werden. Und der wahrscheinlich wichtigste Bestandteil: Sie werden durch Plenardebatten in die Öffentlichkeit getragen. Alle Bürger können sich so informieren und insbesondere eine Meinung bilden. Es werden alle Seiten gezeigt. Die Regierung, die ihr Gesetz lobt. Die Opposition, die es möglicherweise kritisiert. Bei den Pressekonferenzen in Berlin sitzen dagegen meistens nur Kanzlerin Merkel, Berlins Regierender Bürgermeister Müller und Bayerns Ministerpräsident Söder. Opposition? Fehlanzeige.

Verzweiflungstaten

Statt sich über den Sommer langfristig mit parlamentarischer Beteiligung auf einen Winter unter Pandemiebedingungen vorzubereiten, verfiel man plötzlich in blinden Aktionismus und beschloss den „November-Lockdown“ – dass diese Bezeichnung eine Farce ist und die Grundrechtseinschränkungen länger andauern werden, versteht sich von selbst. Von heute auf morgen wurden Gastronomen und Hoteliers, die sich teilweise unter erheblichen finanziellen Belastungen auf den Corona-Winter vorbereitet hatten, dazu gezwungen, ihre Betriebe zu schließen. Das gleiche Spiel erlebten Kultur- und Veranstaltungsbetriebe sowie Sportvereine.

Die wirtschaftlichen Folgen werden katastrophal sein – doch über sie wird immerhin gesprochen und man versucht sich an Lösungen. Was aus dem Blick gerät, sind die psychischen, gesellschaftlichen und sozialen Folgen. Die drastischen Maßnahmen gehen an vielen Menschen nicht spurlos vorbei – vor allem im zweiten Lockdown, nachdem die völlig unbekannte Belastung noch nicht überwunden ist. Existenzängste belasten auch die Psyche sowie das Familien- und Sozialleben schwer. Der fehlende Kontakt mit anderen macht vielen schwer zu schaffen. Mit Erstsemesterstudierenden vor den Monitoren im heimischen Kinderzimmer anstatt in den Hörsälen auf dem Campus züchtet man sich im schlimmsten Fall eine Generation Sozialzombies heran. Lösungen für diese Probleme hat man aus den Regierungen von Bund und Ländern bisher kaum vernommen.

Licht am Ende des Tunnels

Es kann nur festgehalten werden: Das exekutivfetischistische Krisenmanagement ist am Ende. Natürlich hat Deutschland gerade zu Beginn der Pandemie ihre Verbreitung recht erfolgreich eindämmen können. Man hat dabei jedoch einen Scherbenhaufen verursacht, dessen Beseitigung Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird.

Die einzige Hoffnung liegt in einem Impfstoff. Die Phase-III-Studien der Vakzine von Pfizer und BioNTech sowie Moderna lassen einen vorsichtig optimistischen Blick in die Zukunft zu. Sie lassen hoffen, dass innovatives Unternehmertum und moderne Gentechnik das Kapitel COVID-19 im Jahr 2021 ein für alle Mal beenden.

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