Vorratsdatenspeicherung: Totgesagte leben länger!

Horst Seehofer fordert die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung zur Bekämpfung schwerer Straftaten. Trotz diverser, teilweise vernichtender Urteile beharrt der CSU Politiker auf dem wahrscheinlich verfassungswidrigen Vorhaben.

Pünktlich zur Sommerpause des Bundestages kramt Horst Seehofer (CSU), seines Zeichens Bundesminister des Inneren, für Bau und Heimat, die Vorratsdatenspeicherung aus den Katakomben des Berliner Politikbetriebs hervor. Nach Informationen der Bild am Sonntag (BamS) setzt sich Seehofer bei Christine Lambrecht (Justizministerin, SPD) für eine sechsmonatige anlasslose Speicherung von Verbindungsdaten wie Telefongesprächen, IP-Adressen und Ähnlichem ein. Für aufmerksame Beobachter des politischen Geschehens kommt dieser Vorschlag nicht wirklich überraschend, handelt es sich doch bei der Vorratsdatenspeicherung um ein Thema, das die Bundespolitik seit fast 15 Jahren begleitet. Für viele junge politische engagiertere Menschen war die Vorratsdatenspeicherung genauso wie die Debatte um „Killerspiele“ der Einstieg in die Welt der Politik. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass selbst nach fast 15-jähriger Historie, diversen erlassenen Gesetzen, ebenso vielen Urteilen und unzähligen Artikeln, Kommentaren und Meinungsbeiträgen immer noch eine leidenschaftliche und unerlässliche Debatte zu dem Thema geführt wird.

Vorratsdatenspeicherung: ein liberales Thema?

Die Vorratsdatenspeicherung ist ein liberales Thema von besonderer Bedeutung. Nur wenige andere Themen berühren die Kernidentität des Liberalismus so wie die Vorratsdatenspeicherung, denn sie ist die neuste Manifestation der Sicherheits- vs. Freiheitsdebatte. Im Kern der Debatte steht die Abwägung zwischen der Sicherheit der Gesellschaft und der Freiheit des Individuums. Egal ob 2007, 2010 oder heute – im Kern wird die Vorratsdatenspeicherung mit Terrorismus, organisierter Kriminalität oder anderen schweren Straftaten wie Kindesmissbrauch begründet.

Im ersten Moment wird sich kaum jemand gegen ein Gesetz wehren, das bei der Aufklärung von Straftaten wie Kindesmissbrauch oder Terroranschlägen hilfreich sein soll. Und doch ist genau dies nötig, denn was sich im ersten Moment plausibel und verhältnismäßig anhört entwickelt sich bei genauer Betrachtung zu einer universellen Legitimation eines orwellschen Überwachungsstaates. Ob schuldig oder unschuldig, jeder Bürger wird anlasslos überwacht, jeder Anruf, jede Webseite, jede digitale Kommunikation wird von staatlicher Stelle erfasst, archiviert und bei „Bedarf“ gegen den Bürger eingesetzt. Im Wissen um die ständige Überwachung der gesamten Kommunikation wird der Bürger seine Verhaltensweisen neu bewerten und seine Kommunikationsmuster verändern. Die Schere im Kopf, die Zensur der eigenen Kommunikation ist die logische Reaktion des Bürgers auf eine vollumfängliche Überwachung. Der Bürger wird sich alleine aufgrund der Befürchtung, die eigenen Aussagen könnten zu einem späteren Zeitpunkt gegen ihn verwendet werden, selbst zensieren.

Die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Meinungsfreiheit und das Recht auf Privatsphäre sind zentrale Werte des liberalen Rechtsstaats und damit Eckpfeiler des Liberalismus. Die Vorratsdatenspeicherung ist somit ein Instrument, das nicht nur Axt an die Eckpfeiler legt, sondern sie zertrümmert. Deshalb sollten sich Liberale entschlossen gegen sie stellen und mit juristischen, technischen und politischen Mitteln bekämpfen.

Die technische Perspektive

Die Vorratsdatenspeicherung ist nicht nur aus der liberalen Betrachtungsweise problematisch, auch technisch ist nicht alles so einfach wie es im ersten Moment erscheint. Die Vorratsdatenspeicherung lässt sich aus technischer Perspektive im Wesentlichen in die zwei Aspekte Wirksamkeit und Datenspeicherung untergliedern.

Die technische Wirksamkeit der Vorratsdatenspeicherung ist mindestens zweifelhaft, denn diese lässt sich mit einfachsten technischen Mitteln umgehen, die auch von technisch nicht versierten Personen eingesetzt werden können. Von VPNs über Proxys bis zum TOR-Netzwerk gibt es viele Möglichkeiten, sich einer Überwachung zu entziehen. Im Wesentlichen wird bei diesen Methoden die Verbindung von einem Computer (A) nicht direkt zum Ziel (C), sondern zu einem vertrauenswürdigen Dritten (B) aufgebaut. Dieser Dritte fragt dann die Informationen vom ursprünglichen Ziel ab und übermittelt sie an A. Die Verbindung zwischen A und B wird in der Regel durch starke Kryptographie gesichert, so dass eine Überwachung nahezu unmöglich wird. Die Vorratsdatenspeicherung läuft bei Personen, die sich dieser Methoden bedienen, ins Leere, da für einen außenstehenden Betrachter nur eine Kommunikation zwischen A und B aufgezeichnet wird. Dass B im Hintergrund Informationen bei C abfragt, ist nicht nachvollziehbar. Die Vorratsdatenspeicherung wird konsequent unterlaufen und ist damit unwirksam.

Da sich die Anbieter dieser Dienstleistungen im Zweifel außerhalb des Zugriffsbereichs der deutschen Behörden befinden, lässt sich einer Überwachung so effektiv entgehen. Auch ein Verbot der entsprechenden Software / Dienstleistung ist sinnlos. Die Software basiert auf mathematischen Prinzipien, die in jeder gut sortieren Bibliothek zu finden sind, und die konkreten Implementierungen sind vollständig öffentlich und somit schwer bis gar nicht zensierbar. Basierend auf der einfachen Verfügbarkeit von einfach zu verwendenden Systemen, mit denen eine Vorratsdatenspeicherung wirksam unterlaufen werden kann, ist davon auszugehen, dass Personen, die schwere Straftaten begehen wollen, sich dieser effektiven Methoden bedienen werden, um einer Vorratsdatenspeicherung zu entgehen. Insofern treffen die Maßnahmen nur unbescholtene Bürger. Damit wird die Vorratsdatenspeicherung ad absurdum geführt, da sie ihren Hauptzweck, nämlich die Erfassung von Daten, die bei der Aufklärung von Straftaten helfen sollen, nicht erfüllt.

Neben der einfachen Umgehung der Vorratsdatenspeicherung stellt sich das Problem der sicheren Speicherung der erhobenen Daten. Je nach genauer Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung werden die erhobenen Daten direkt bei den Providern, in separaten Systemen bei den Providern oder im schlimmsten Fall sogar bei den Strafverfolgungsbehörden direkt gespeichert. Dies führt meiner Meinung nach gleich zu mehreren potenziellen Problemen und weiteren Risiken. Ein zentraler Datenspeicher bei Strafverfolgungsbehörden oder Providern stellt ein ausreichend interessantes Angriffsziel für Hacker und Akteure staatlicher Geheimdienste dar, um kostenintensive Angriffsvektoren lohnenswert erscheinen zu lassen. In diesem Fall könnten die Daten von Millionen Bürgern in die Hände von Kriminellen oder Geheimdiensten fallen. Zusätzlich zu dem Risiko von außen gibt es weitere relevante Bedrohungsszenarien wie die unberechtigte Abfrage von Daten durch Behörden oder Mitarbeitern der Provider, die drastisch in die Privatsphäre der Bürger eingreift.

Gerade kleinere Provider sind selten in der Lage, die regulatorischen, finanziellen und organisatorischen Anforderungen, die an diese Systeme gestellt werden, zu erfüllen. Allein die Entwicklung, Implementierung und Wartung der notwendigen Infrastruktur zur Speicherung, Erfassung und dem Zugriff auf die Daten stellt eine hohe finanzielle Belastung für Telekommunikationsunternehmen dar. Bei einer realistischen Betrachtung der notwendigen technischen Systeme kann davon ausgegangen werden, dass die Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung selbst kleine Provider mit Millionenbeträgen belasten wird. In Kombination mit dem hohen Risiko von Datenlecks und fortwährenden Angriffen auf die Infrastruktur sind kleine Telekommunikationsunternehmen somit deutlich im Nachteil und könnten so mittelfristig aus dem Markt verdrängt werden.

Die juristische Perspektive

Auch in der juristischen Betrachtung ist die Vorratsdatenspeicherung keine Unbekannte; bereits in ihrer ersten Ausführung wurde die Vorratsdatenspeicherung deshalb vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. Die Richter des BVerfG stellten fest, dass die Vorratsdatenspeicherung gegen Art. 10 Abs. 1 GG (Fernmeldegeheimnis) verstößt. Das BVerfG stellte zwar fest, dass eine Vorratsdatenspeicherung grundsätzlich nicht mit dem Grundgesetz unvereinbar sein müsse, allerdings müssten hohe Anforderungen an Speicherung und Zugriff gestellt werden. Diesen Anforderungen wurde das Gesetz nicht gerecht. Als Reaktion auf dieses Urteil wurde unter Verantwortung von Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) das sogenannte „Quick-Freeze“ Verfahren vorgeschlagen. Dabei werden die Verkehrsdaten anlassbezogen für einzelne Personen auf Anordnung eines Richters gespeichert. Im Vergleich zum ersten Vorschlag erscheint diese Option hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit als deutlich weniger problematisch. Trotzdem wurde der Vorschlag nicht weiterverfolgt.

Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages untersuchte 2011 die Vereinbarkeit der Vorratsdatenspeicherung mit der Europäischen Grundrechtecharta und stellte fest, dass „[…] keine Ausgestaltung dieser Richtlinie […] eine Vereinbarkeit mit der Grundrechtecharta“ sicherstellt. Neben dem BVerfG hat sich auch der EuGH mehrfach mit dem Thema beschäftigen müssen und ist 2014 und 2016 im Wesentlichen zum Schluss gekommen, dass eine Vorratsdatenspeicherung einen „besonders schwerwiegenden Eingriff […] in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten” darstellt. Auch momentan ist nach einer Klage der Telekom vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Klage am EuGH anhängig. In diesem Verfahren soll endgültig geklärt werden, ob und in welcher Form eine Vorratsdatenspeicherung umzusetzen ist.

Ausblick

Berücksichtigt man die Urteile des BVerfG und des EuGH, ist davon auszugehen, dass der EuGH im aktuellen Verfahren kein in substanzieller Weise von seinen vorhergehenden Urteilen abweichendes Urteil sprechen wird. Insofern ist die Forderung von Horst Seehofer als populistischer Irrweg zu bezeichnen. Bemerkenswert ist außerdem, dass trotz der eindeutigen Urteile und des anhängigen Verfahrens beim EuGH die Vorratsdatenspeicherung erneut ein Thema ist. Ich empfehle Horst Seehofer nicht den Fehler Andreas Scheuers zu wiederholen und auf Durchsetzung eines Vorhabens zu drängen, das höchstwahrscheinlich vom EuGH gekippt werden wird.


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