Warum Verfassungsfossilien ins Museum gehören

Das Grundgesetz feierte im Jahr 2019 seinen 70. Geburtstag, aber statischer Rentner ist es noch lange nicht. Höchste Zeit also, unsere dynamische Verfassung einmal mehr der Realität anzupassen!

Ein Kind der Nachkriegszeit

Seinen Ursprung hat Art. 15 GG in der Beratung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat. Zuvor sind ähnliche Bestimmungen bereits Teil einiger Landesverfassungen geworden, so etwa in Art. 27 Abs. 1 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Nachkriegszeit war in erster Linie geprägt von wirtschaftlicher und politischer Unsicherheit, und genau in diesen Kontext fällt der Sozialisierungsartikel des Grundgesetzes. Selbst das Ahlener Programm der CDU von 1947 trug noch eine semi-sozialistische Handschrift – für die Partei heute undenkbar. Art. 15 GG ist letztlich nur eine Kompromissnorm, die auch in strategischer Perspektive die noch marxistisch angehauchten Sozialdemokraten der Nachkriegszeit vom Grundgesetz überzeugen sollte.

Es kam jedoch anders: Nach Gründung der Bundesrepublik stabilisierte sich die politische Situation, die ordoliberal geprägte wirtschaftspolitische Konzeption von Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack trug schnell Früchte und bescherte der Bundesrepublik Wachstum und Wohlstand. Die soziale Marktwirtschaft trug entscheidend zur Verfestigung des jungen Staates bei und hat sich über die Jahrzehnte bewährt. Art. 15 GG kam noch nie zur Anwendung und erscheint umso mehr wie ein aus der Zeit gefallenes Relikt aus der bundesrepublikanischen Selbstfindungsphase nach dem Krieg – ein Verfassungsfossil eben. Art. 15 GG wird in seiner Bedeutung ohnehin gerne überschätzt, denn er konstituiert keinen „Verfassungsauftrag“ zur Sozialisierung1, ja nicht einmal eine „Tendenz“ in diese Richtung.2

Politische Instrumentalisierung

Art. 15 GG ist heute jedoch populär wie noch nie, auch als Teil politischer Kampagnen wie der Berliner Initiative „Deutsche Wohnen Enteignen“, oder zuletzt von Kevin Kühnert in Bezug auf die Autoindustrie. Man darf sich jedoch gerade nicht der bequemen Illusion hingeben, rein staatlich geführte Wirtschaftszweige funktionierten besser. Abgesehen von der laienhaften Terminologie solcher Debatten – eine Sozialisierung ist von einer Enteignung (Art. 14 Abs. 3 S. 1 GG) abzugrenzen – werden Instrumentarien des Rechtsstaates für die eigene politische Agenda missbraucht und pervertiert. Beide Rechtsinstitute dürfen nicht zur „Bestrafung“ unliebsamer Unternehmen genutzt werden, wie es zuletzt im Kontext des Corona-Ausbruchs bei Tönnies zu hören war. Weder Enteignungen noch Sozialisierungen sind politische Willkürinstrumente, sondern an enge Voraussetzungen und eine Entschädigung geknüpft und immer Ultima Ratio. Art. 15 GG ist also weniger aufgrund seiner besonderen Bedeutung für die bundesrepublikanische Verfassungsordnung, sondern allenfalls als Ausdruck des – übrigens der historischen Evidenz widersprechenden – sozialpopulistischen Ammenmärchens von Verstaatlichungen als wirtschaftspolitischem Allheilmittel in aller Munde. Besagter Überhöhungsfetischismus findet seinen Ursprung eher in der Abwehrreaktion gegen eine bürgerlich-rechtsstaatliche Freiheitsordnung, die dem linken Rand nur wenig Identifikationspotenzial bietet. Die propagandistische Kultivierung des Artikels mit viel moralistischem Pathos ermöglicht eine Selbstinszenierung als Verteidiger einer Verfassungsordnung, die man Linksaußen ansonsten von Grund auf ablehnt. Führt man sich dies vor Augen, stellt die Popularitätsrenaissance des Sozialisierungsartikels für den aufmerksamen Betrachter keine besonders große Überraschung dar.

Systemwechselträumereien den Riegel vorschieben

Wir verschwenden Energie an sinnlose Debatten, die nebenbei eine starke ideologische Färbung haben. Es geht hier oftmals nicht um einen punktuellen Markteingriff im Dienste des Gemeinwohls, sondern um eine vollständige Veränderung unseres Wirtschaftssystems. Art. 15 GG ist weniger ein juristisch fundiert gebrauchter Teil der Debatte, sondern eher Projektionsfläche sozialistischer Systemwechselträume. Ursprünglich mag das Grundgesetz wirtschaftspolitisch offen gewesen sein,3 aber seitdem sind nun über 70 Jahre vergangen – nicht nur unsere Verfassung, sondern auch unser wirtschaftliches System hat sich bewährt, und daher ist es an der Zeit, erstere an letzteres anzupassen, um Verfassung und Wirklichkeit zu koppeln. Wünschenswert wäre es daher, die Streichung gleichzeitig an ein explizites verfassungsrechtliches Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft zu knüpfen. Zwar wird auch hier die sachliche Notwendigkeit in Frage gestellt, so verweist Richter am BVerfG a. D. Udo di Fabio auf die mitunter detaillierten Bekenntnisse zur Marktwirtschaft in den Unionsverträgen (explizit Art. 3 Abs. 3 EUV, aber auch Folge der historischen Entwicklung der EU und vielen (binnen-)marktbezogenen Regelungen in den Verträgen, in denen folglich die Existenz des Marktes vorausgesetzt wird).4 Gleichwohl geht es neben der verfassungsrechtlichen Determination politischer Handlungsoptionen eben auch besonders um die Symbolkraft einer derartigen Unternehmung, die das ideelle Bekenntnis unserer Gesellschaft und politischen Ordnung zur sozialen Marktwirtschaft noch einmal kraftvoll zum Ausdruck bringt.

Verfassungsrechtliche Zulässigkeit

Dies ist in erster Linie eine Frage, die der verfassungsändernde Gesetzgeber zu beantworten hat, mithin ist sie politischer Natur. Die Zulässigkeit einer Abschaffung steht außer Frage: Zunächst ist Art. 15 GG – entgegen häufig fehlerhafter Lektüre des Normtexts – nicht von der die verfassungsändernde Gewalt (pouvoir constituant constitué) begrenzenden Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG umfasst. Da sich die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG als Schranken-Schranke für Grundrechtseingriffe ausschließlich an den einfachen Gesetzgeber richtet, ist auch sie nicht einschlägig. Eine materielle Kopplung an das änderungsfeste Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 S. 1 und Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) ist nicht vertretbar, da die Vergesellschaftungsoption hier kein zentrales strukturbildendes Merkmal ist5 – Art. 15 GG wurde schließlich noch nie angewandt, und dass wir ein Sozialstaat sind, stellt trotzdem niemand ernsthaft in Frage.

Plädoyer für einen aktualisierten Wirklichkeitsbezug

Überdies ist die Verfassung – eben abgesehen vom prinzipiellen Kernbestand des Grundgesetzes (Art. 1 und 20 GG) – dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers unterworfen. Die insgesamt 62 verfassungsändernden Gesetze seit seinem Inkrafttreten stellen dies eindrücklich unter Beweis. Solange die formellen und materiellen Voraussetzungen einer Verfassungsänderung gegeben sind – also eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat (Art. 79 Abs. 2 GG) – kann diese auch vorgenommen werden. Informelle Begrenzung gibt es insoweit nur durch eine vorherige Debatte oder eine kritische Öffentlichkeit, die zur Modifikation der Änderungsvorschläge beitragen kann, wie dies zum Beispiel im Rahmen der Notstandsverfassung Ende der 1960er-Jahre der Fall war.

Grund für eine Verfassungsänderung war in der Vergangenheit häufig die Notwendigkeit der Herstellung einer verfassungsrechtlichen Wirklichkeitskopplung – so zum Beispiel in der Einfügung einer Wehrverfassung im Zuge der Gründung der Bundeswehr, der Änderung des Art. 23 GG nach der Wiedervereinigung, oder der Einfügung des Art. 20a GG als Resultat eines gesteigerten Bewusstseins für Umweltschutz. Wesensmerkmal einer Verfassung ist ihre Anpassungsfähigkeit an die soziale Realität, die die Wirklichkeit auch hier in eine normative Gussform geben und zugleich eine realpolitische Debattenstabilisierung herbeiführen kann – two birds with one stone.


Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung des Gastautors wider.


  1. BVerfGE 12, 354 (363 f.).[]
  2. BVerfGE 5, 85 (326).[]
  3. kritisch jedoch Sodan, in: ders., Art. 14 Rn. 15; vgl. BVerfGE 4, 7 (17 f.); 50, 290 (336 f.); unstrittig unzulässig wäre allerdings die Einführung einer Zentralverwaltungswirtschaft, weil diese mit den grundrechtlichen Gewährleistungen des GG im Widerspruch stünde (vgl. dazu auch Papier, in: APuZ 13/2007, S. 5).[]
  4. https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/artikel-15-grundgesetz-streichen-sozialisierung-enteignung-fdp/; s. auch Papier, in: APuZ 13/2007, S. 3.[]
  5. umfasst sind lediglich die „Grundelemente“, vgl. BVerfGE 84, 90 (121).[]

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