Freiheit ist keine Selbstverständlichkeit. Auch Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft sind keine Naturgesetze, die niemals zur Disposition stehen. Eine Erkenntnis, die von Vielen lange verdrängt werden konnte, aber mittlerweile nicht mehr verdrängt werden darf. Die großen Jahre des Liberalismus, eingeleitet durch den Fall des eisernen Vorhangs und verbreitet durch die schillernden Erfolge von Demokratie, Rechtsstaat, Globalisierung und Marktwirtschaft, durchlebt seine schwerste Krise. Die Unfähigkeit westlicher Demokratien, Antworten auf zentrale Probleme wie den Klimawandel, ausbleibende Digitalisierung oder Migration zu finden, wirkt als Katalysator für die Narrative der Gegenaufklärer, die sich als Kämpfer gegen “Überfremdung”, “Globalismus” und einen ungezügelten Kapitalismus inszenieren.
Die Wahl Joe Bidens mag ein Hoffnungsschimmer sein. Dass Donald Trump dennoch über 70 Millionen Wähler mobilisieren konnte und mit der Republican Party im Rücken danach aber den “größten Wahlbetrug der Geschichte” inszenierte, ist bedrohlich genug. Auch in der Europäischen Union werden transnationale Bemühungen immer öfter von den illiberalen Kräften in Polen und Ungarn blockiert. In Ungarn verkündete Viktor Orban unlängst stolz sein Ziel einer “illiberalen Demokratie”. Die Corona-Krise beschleunigt weitere Probleme wie steigende Arbeitslosigkeit und fehlendes wirtschaftliches Wachstum. Auch der steigende Einfluss Chinas, die ihren modernen Autoritarismus als Gegenmodell zu der westlichen, liberalen Demokratie präsentieren, wird immer gefährlicher.
Ein moderner Liberalismus muss all diesen Tendenzen entgegenwirken. Unzufriedenheit und steigendes Misstrauen in die Politik, Globalisierung und Marktwirtschaft sind schwere Hypotheken. Sie belasten die Hoffnung auf liberalen Fortschritt und müssen abgebaut werden. Dafür ist es einerseits erforderlich, die Gefahren der Unfreiheit klar zu benennen. Rechter Autoritarismus à la Orban, islamistischer Terror oder der linke Wunsch eines radikalen Systemwechsels müssen unterschiedlich bewertet werden, fallen aber letztendlich in dieselbe Schublade. Andererseits muss es der Liberalismus schaffen, bislang ausgebliebene Antworten auf die zentralen Themen des 21. Jahrhunderts zu finden. Es gilt neuen Antrieb für die benötigte Reformkraft des Liberalismus zu finden, um die Probleme der Gegenwart zu lösen.
In diesem Sinne sollte man einmal mehr einen Blick auf die liberalen Intellektuellen der Vergangenheit richten, denn das breite Fundament liberaler Werte und Ansichten, das nach dem zweiten Weltkrieg auf fruchtbaren Boden traf und Liberale weltweit inspirierte, gilt es einmal mehr neu zu entdecken. Es braucht eine neue Generation von Liberalen, die sich mit liberalen Denkern und ihren Werken auseinandersetzen, diese weiterentwickeln und verbreiten. In diesem Sinne soll dieser Artikel einen ersten Einblick in die Ideen drei zentraler, liberaler Denker im 20. Jahrhundert geben; Karl Popper, Ralf Dahrendorf und Raymond Aron. Denn die Verteidigung der offenen Gesellschaft, das Streben nach mehr Lebenschancen für mehr Menschen und der Kampf für die Freiheit, bleiben brennend aktuelle Anliegen.
Teil 1: Karl Popper – Über die offene Gesellschaft, piecemeal engineering und absolute Wahrheiten
In den dunkelsten Jahren des letzten Jahrhunderts, der Zeit des Totalitarismus und der Unfreiheit, war es Karl Popper, der am klarsten den Gegenentwurf einer liberalen Gesellschaft, ausformulierte. Die offene Gesellschaft, eine seiner zwei großen Ideen, hat wie keine andere den Liberalismus in der Nachkriegszeit geprägt und ist heute der Rahmen jeglichen liberalen Denkens.
Geboren als Sohn eines jüdischen Rechtsanwalts, der schon vor seiner Geburt zum Protestantismus konvertierte, wuchs Popper in Wien auf. Der Multikulturalismus und die Weltoffenheit des damaligen Wiens, das friedliche Zusammenleben von Katholiken, Juden, Atheisten oder Protestanten beeindruckten ihn stark. Die Bibliothek seines Großvaters, die etwa fünfzehntausend Werke umfasste, weckte sein Interesse an Forschung und Literatur. Die puritanistisch-protestantische Erziehung seiner Eltern, der weltoffene und kulturelle Geist der Stadt Wien und das Interesse an wissenschaftlicher und philosophischer Literatur wird sein Denken das ganze Leben prägen.
Popper wendet sich, passend zum damaligen Zeitgeist, in seiner Jugend dem Sozialismus zu. Er verlässt das Gymnasium frühzeitig und zieht aus der elterlichen Wohnung aus, um sich in der sozialistischen Jugendbewegung und der Wiener Schulreformbewegung zu engagieren. Ihn interessieren pädagogische und soziale Fragen, schnell wird er Kommunist, um sich genau so schnell von der Ideologie wieder abzuwenden. Der Grund dafür ist die Teilnahme an einem kommunistischen Putschversuch am 15. Juni 1919, bei dem 20 Jugendliche sterben. Die von der Dogmatik des Kommunismus ausgehende Gefahr wird für Popper dort erstmalig sichtbar.
Seinen Lebensunterhalt finanziert Popper in dieser Zeit durch Privatunterricht. Währenddessen besucht er immer öfter Vorlesungen an der Universität Wien. Mathematik, Philosophie, Geschichte, Physik oder Psychologie – ein breites Interessenspektrum. Er beginnt mit einer Tischlerlehre und legt gleichzeitig seine Matura ab, um mit einem Lehramtsstudium in den Fachgebieten Physik und Mathematik zu beginnen. Sowohl die Tischlerlehre als auch das Studium beendet er 1924 erfolgreich, wenig später beginnt er mit einem Studium am Pädagogischen Institut in Wien und promoviert bei Karl Bühler mit dem Thema “Zur Methodenfrage der Denkpsychologie”.
Es ist die Zeit, in der Karl Popper das erste mal mit dem “Wiener Kreis”, um Moritz Schlick, Hans Hahn und Otto Neurath in Berührung kommt, die Hochburg des logischen Empirismus, die maßgeblich von Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein beeinflusst wurde. Erst der Wiener Kreis, genauer genommen die Auseinandersetzung mit dem Wiener Kreis, brachte Popper dazu, seine Gedanken aufzuschreiben. Auf den logischen Positivismus des Wiener Kreises antwortet Popper in “Logik der Forschung” mit seiner Wissenschaftstheorie des kritischen Rationalismus. Die mögliche Verifizierung als Bestimmungsmerkmal für eine wissenschaftliche Aussage, ersetzt Popper durch die mögliche Falsifizierung.
Erkenntnis, so Popper, schreitet durch die Falsifizierung von Theorien voran. Entscheidend ist also, dass die Theorien, die als Hypothesen begriffen werden, das Potenzial auf eine mögliche Falsifizierbarkeit besitzen und damit angreifbar sind. Auf eine falsifizierte Theorie folgt eine bessere und umfassendere Theorie, die hypothetisch bleibt und falsifizierbar ist. Verstaubte Türme der alten Erkenntnis werden eingerissen und durch höhere Türme der neuen Erkenntnis ersetzt.
Schritt für Schritt nähert man sich der Wahrheit an. Ob wir die “endgültige” Wahrheit aber erreicht haben, können wir nicht wissen, und so bleibt es ein ewiger Prozess der Wahrheitsfindung. Auf eine provisorische Wahrheit folgt eine neue provisorische Wahrheit, die immer von relativen Bestand sein könnte. Was nicht bedeutet, dass sie relativ ist, ganz im Gegenteil. Solange nicht widerlegt, ist die provisorische Wahrheit die höchste Erkenntnis, an der es sich zu orientieren gilt. Das menschliche Bedürfnis die eigene Erkenntnis zu erweitern wird somit, in Form der ewigen Wahrheitssuche, zum Fortschrittstreiber. Durch Versuch und Irrtum stolpert man sich auf dem Pfad der Erkenntnis voran, die Wahrheit von heute ist möglicherweise der Irrtum von morgen.
Auch deshalb sind Liberale mit einem inneren Frühwarnsystem ausgestattet, das immer Alarm schlägt, wenn die Scharlatanerie einer absoluten Wahrheit propagiert wird. Egal ob im Gewand eines “orakelnden Philosophen”, im Namen einer Religion oder durch die Fanfaren eines Sektenführers. Liberale sind sich den Gefahren der Dogmatik bewusst, die von einer vermeintlichen absoluten Wahrheit ausgeht, die weder Kritik zulässt, noch widerlegbar ist und auf die Entmündigung des Einzelnen abzielt. Die mit dieser Dogmatik oft einhergehenden Mittel-zum-Zweck-Attitüde lehnen Liberale ebenso ab, weil selbst das edelste Motiv, ein potenzieller Irrtum ist.
Die Tugend des Liberalen, an der stetigen Weiterentwicklung seiner Erkenntnis zu arbeiten, zwingt ihn dazu, fortlaufend seine eigene Position zu hinterfragen. Timothy Garton Ash hat wahrlich Recht, wenn er in seinem neuesten Essay betont, dass Selbstkritik eine besondere liberale Stärke sei. Ein Liberalismus, der sich in seiner Suche nach mehr Freiheit, nicht auf die Gegenwart und ihre neuen Erkenntnisse bezieht, ist wertlos. Dass die innere Auseinandersetzung der Liberalen, von ihren Gegnern als Schwäche aufgefasst wird, darf nicht davon ablenken, dass sie für die inhaltliche Weiterentwicklung des Liberalismus lebensnotwendig ist.
Ganz im Sinne des aktiven Staatsbürgers scheuen Liberale den Konflikt nicht und beziehen sich dabei auch immer auf eine weitere zentrale Tugend des popperschen Denkens: die Toleranz. Dass ein tolerantes Auftreten gegenüber anderen Meinungen und deren Vertretern wichtig ist, ist letztlich nur die Schlussfolgerung aus der bereits vorausgegangen Erkenntnis. Denn wenn wir wissen, dass jede unserer Wahrheiten einen potenziellen Irrtum darstellt und die vermeintlichen Irrtümer des Gegenübers eine potenzielle Wahrheit sind. Wenn wir zudem wissen, dass die Erkenntnis durch die Falsifizierung von Thesen, Ideen und Meinungen wächst, ist der zivilisierte Dialog, der Weg, den es zu gehen gilt. Das bedeutet nicht, dass Toleranz keine Grenzen kennt. Das allseits bekannte Toleranz-Paradoxon Poppers, “Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz”, muss ich nicht weiter ausführen. Es bleibt dennoch anzumerken, dass Intoleranz gegen die Intoleranten immer nur das Ultima-Ratio ist und eine willkürliche Auslegung nicht im Sinne Poppers gewesen wäre.
Nach der Hochzeit mit Josefine Henninger im Jahr 1930, arbeitet Popper, neben seiner Tätigkeit als Hauptschullehrer, über vier Jahre an dem Werk, dass ihn erstmalig bekannt macht. Die erste Version von Logik der Forschung erscheint in deutscher Sprache 1934, die erweiterte englische Version The Logic of Scientific Discovery 1959. Erste Einladungen zu Vorträgen nach England sind ein erster Höhepunkt seiner akademischen Laufbahn. Durch den überhandnehmenden Antisemitismus wegen des steigenden Einfluss der Nationalsozialisten bleibt es aber nur ein kurzer. Auf den ersten Höhepunkt folgt ein noch schwererer Rückschlag: Popper wird zur Emigration nach Neuseeland gezwungen. Aufgrund Perspektivlosigkeit in Österreich nimmt er ein Angebot zur Dozentur an der Canterbury University in Christchurch an, 1937 emigrieren er und seine Frau Hennie, auch dank der Hilfe seines Freundes Friedrich A. von Hayek, schließlich nach Neuseeland.
Der Weg ins Exil wird auch zu einer inhaltlichen Bruchlinie für Popper, für einige Jahre wendet er sich von der Wissenschaftstheorie ab, um die Ursprünge totalitärer Herrschaft zu erforschen. 1942 erscheint Das Elend des Historizismus und drei Jahre später, 1945, sein zweites zentrales Werk: Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde. Als Schuldigen für den modernen Totalitarismus auserkoren, widmet sich Popper darin dem Historizismus und den darauf aufbauenden “orakelnden” Philosophen. Mit Platon als Urvater, Hegel als Bindeglied zwischen dem alten Griechenland und der Moderne und Marx, mit dem der Einfluss des Historizismus einen Höhepunkt erreichte, arbeitet sich Popper schrittweise durch die Ideengeschichte voran.
Dennoch kann und möchte ich weder auf Platon, dessen platonischen Staat, die Politeia, die Popper als Urmuster des Totalitarismus identifiziert, das auf einer deterministischen Geschichtsphilosophie aufbaut, Veränderung verabscheut und mit Kollektivismus durchsetzt ist, näher eingehen. Noch auf Hegel, dessen Historizismus sich nach Popper zwar von dem Platons unterscheide, aber dafür wie kein anderer als “Dünger” für den modernen Totalitarismus diene (Der rechte Kampf der Rassen, als auch der linke Klassenkampf gründet auf Hegels historizistischen Kampf der Nationen). Und der mit seiner Dialektik, so Popper, eine Unterwanderung der Vernunft und eine Legitimierung für einen an ihre Stelle tretenden autoritären Staat (Preußen) im Sinne hatte. Und auch nicht auf Marx, der inspiriert durch die hegelsche Dialektik, die nach Popper bis jetzt gefährlichste Form des Historizismus entwickelte und dessen Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft, erstens teilweise auf falschen Prämissen und Schlussfolgerungen aufbaut und zweitens die totalitäre Herrschaft einer Klasse, die jegliche Individualität zerstört, rechtfertigt.
Poppers Vorwürfe sind außerordentlich hart. Sie Schritt für Schritt zu überprüfen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen und wäre aufgrund meiner mangelhaften Expertise auch sicherlich keine Bereicherung. Dennoch ist es nötig nochmal auf den Historizismus einzugehen, dessen Zauberkraft (die keine ist) auch heute noch auf fruchtbaren Boden trifft. Anzunehmen, dass die Geschichte durch unerbittliche Gesetze bestimmt sei, ist ein gefährlicher Irrglaube. Anzunehmen, dass Individuen diesen sozioökonomischen Kräften, ohne (oder mit geringer) Möglichkeit auf Selbstbestimmung unterworfen seien, ein noch viel gefährlicherer. Anzunehmen, dass die Geschichte durch eine Ordnung, eine Richtung, eine Gottheit oder Produktionsverhältnisse determiniert sei, ist mehr als naiv. Zu Behaupten, dass man die Gesetze der Geschichte und damit die Schlüssel für die Zukunft entdeckt habe, die reinste Form der Scharlatanerie. “Die Geschichte hat keinen Sinn”, sagt Popper und hat Recht, denn es ist unmöglich in dem tagtäglichen Chaos an Ereignissen, die die Geschichte immer neu schreiben, einen allgemeinen Sinn oder ein allgemeines Muster zu finden. In diesem komplizierten Durcheinander lässt sich keine Regel finden, die uns eine Prophezeiung für die Zukunft offenlegt.
Die Unbestimmtheit der Geschichte mag einen verunsichern, sie gibt uns aber auch Hoffnung und die Möglichkeit, sie aktiv zu beeinflussen. “Die Geschichte hat keinen Sinn…. aber wir können ihr einen geben” führt Popper weiter an und lässt uns damit die Zügel ergreifen, um unsere eigene Geschichte zu lenken. Die Selbsterdrosselung unter den Gesetzen der Geschichte, die feste Bahnen der Entwicklung vorgeben, mag ein (irrationales) Gefühl der Sicherheit vorgeben. Sie nimmt einem aber unweigerlich die Handlungsfreiheit. Verantwortung für unser eigenes Handeln zu übernehmen, um sich aus der Rolle des selbstversklavten Objektes zu befreien, ermöglicht uns zum Subjekt der eigenen Geschichte zu werden. Auch Liberale haben sich zu lange dem Glauben hingegeben, dass Demokratie und Freiheit eine Selbstverständlichkeit seien und als vollendete Form (als letzte Synthese) der Geschichte nicht zur Disposition stehen. Eine fatale Annahme, die Liberale selber zu Historizisten macht und damit unfähig, auf die Feinde der offenen Gesellschaft zu reagieren.
Wir können die Geschichte verändern, die Zukunft mit ihren Möglichkeiten gestalten, wir können aber genauso gut alles Erkämpfte verlieren. Fortschritte, aber auch Rückschritte (auf Kosten der offenen Gesellschaft) sind immer eine Möglichkeit. Letztlich liegt es in unserer Hand. Es ist nur die Demokratie, die vonnöten für eine offene Gesellschaft ist, die diesem menschlichen Gestaltungsanspruch ein allgemeingültiges Fundament gibt. An die Stelle der Philosophenkönige von Platon oder der marxschen Diktatur des Proletariats treten von uns gewählte Volksvertreter, die jederzeit abwählbar sind. An die Stelle von historizistischen Prophezeiungen tritt unser kritischer Geist, der uns den Weg ins Unbekannte ebnet. Die Emanzipation von Kollektivismus, Aberglaube und Irrationalismus, aufdiktiert durch einen totalitären Staat, der (im Sinne Platons) Veränderung und Fortschritt verabscheut, hat die Menschheit erst aufblühen lassen. Die Gefahr der geschlossenen Gesellschaft, der “Ruf der Horde” wie Mario Vargas Llosa so schön sagt, propagiert durch illiberale Gegenaufklärer ist eine sehr akute, die uns kein Ausruhen erlaubt.
Auch in diesem Sinne gilt es einmal mehr daran zu erinnern, dass wir für unsere Werte einstehen können und sollen, ohne dabei einer Mittel-zum-Zweck-Attitüde zu verfallen. Das Eintreten für Werte wie Gerechtigkeit, Gleichheit oder Freiheit bleibt solange ein berechtigtes Anliegen, wie der Grundkonsens der Demokratie und der damit verbundenen Rechtsstaatlichkeit vorausgesetzt ist. Der fatale Irrweg, die eigenen Anliegen (so löblich sie auch sind), mit Gewalt durchzusetzen, ist kontraproduktiv und gefährlich. Wenn man sich über den Weg des besseren Arguments, der Auseinandersetzung und der Wahl hinwegsetzt, um über Gewalt an die eigenen Ziele zu kommen, nimmt man den eigenen Vorstellung die Möglichkeit auf Widerlegbarkeit und macht so den potenzielle Irrtum zum Dogma. Auch gesellschaftspolitische Ideen müssen falsifizierbar bleiben, und sind somit als Hypothesen zeitlich begrenzt und offen für Veränderung. (Hier zeigt sich die Verknüpfung der popperschen Wissenschaftstheorie mit seiner Gesellschaftstheorie.)
An die Stelle von “utopian engineering” muss “social engineering” treten, anstatt den Himmel auf Erden verwirklichen zu wollen, sollten wir die Wirklichkeit Schritt für Schritt verbessern. Eine solche Sozialtechnik mag nicht zu schnellen, radikalen Lösungen führen, sie erlaubt aber durch Reformen bestehende Probleme zu verbessern, ohne dabei die individuelle Freiheit eines jeden Einzelnen durch Gewalt oder Unterdrückung zu verletzen. Dass diese Vorgehensweise zudem von mehr Erfolg gekrönt ist, zeigt ein Blick in die Geschichte: Die Demokratisierung des Klassenkonfliktes hat weltweit für mehr Gleichheit gesorgt, als jegliche sozialistische Revolution. Ähnliches beobachten wir beim Klimaschutz, der Einsatz für die eigene Zukunft und die Gestaltung der Wirklichkeit erfordert von uns stetige Tätigkeit und Verantwortung.
Karl Popper bleibt aktuell, der Einsatz für die offene Gesellschaft sein zentrales Erbe. Noch heute erinnern uns Freiheitskämpfer in Hongkong, Weißrussland, Venezuela oder dem Iran an die Gefahren einer geschlossenen Gesellschaft – unsere Unterstützung muss ihnen sicher sein. Doch auch in den westlichen Staaten ist die Irrationalität in Form populistischer Gegenaufklärer zurückgekehrt, ihr Erstarken ist ein bedrohliches Zeichen. Für das Gegenmodell eines optimistischen vernunfts-getriebenen Fortschrittes muss wieder stärker geworben werden. George Soros, der unter Karl Popper in London studierte und den Gedanken der offenen Gesellschaft wie kein Zweiter verinnerlichte, macht es unlängst vor. Mit seiner Open Society Foundation fördert er Demokratie, Menschenrechte und offene Debatten weltweit. Dass er von Gegenaufklärern aller Art verachtet wird, insbesondere von Rechtspopulisten wie Viktor Orban, ist kein Wunder: eine aktive und aufgeklärte Bürgergesellschaft, die keinen absoluten Wahrheiten vertraut, raubt ihnen die Existenzberechtigung.
Popper, Karl (2021): Karl R. Popper-Gesammelte Werke: Band 3: Logik Der Forschung by Sir Karl R Popper (2005-05-31), Tübingen, Deutschland: Mohr Siebeck.
Popper, Karl/Hubert Kiesewetter (2003): Karl R. Popper-Gesammelte Werke: Band 5: Die Offene Gesellschaft Und Ihre Feinde. Band I: Der Zauber Platons (German Edition), 8th Revised ed., Tübingen, Deutschland: Mohr Siebeck.
Popper, Karl (2003): Karl R. Popper-Gesammelte Werke: Band 6: Die Offene Gesellschaft Und Ihre Feinde. Band II: Falsche Propheten: Hegel, Marx Und Die Folgen (German Edition), 8th Revised ed., Tübingen, Deutschland: Mohr Siebeck.
Dahrendorf, Ralf (1994): Liberale und andere: Portraits (German Edition), Top corner of front endpaper and half-titlepage cl., München, Deutschland: Deutsche Verlags-Anstalt.
Llosa, Vargas Mario (2019): Der Ruf der Horde: Eine intellektuelle Autobiografie, Frankfurt am Main, Deutschland: Suhrkamp Verlag.