Thomas Kemmerich – Ver(b)rannt?

Thomas Kemmerichs Wahl zum Ministerpräsidenten Thüringens am 5. Februar 2020 hält das Land bis heute in Atem. 2021 steht die vorgezogene Landtagswahl an – eine Herausforderung für die Thüringer Liberalen. Unser Gastautor wagt einen Ausblick.

Thüringer Landtag
Foto: Pressefoto Thüringer Landtag; Bearbeitung: keepitliberal.de

Thüringens rot-rot-grüne Landesregierung einigte sich mit der CDU darauf, die vorgezogene Landtagswahl 2021 zusammen mit der Bundestagswahl am 26. September 2021 durchzuführen. Zwar war zuvor noch ein Termin im April im Gespräch, doch der Wahltermin wurde im Hinblick auf die Pandemielage auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Diese Entscheidung war abzusehen, da jeder Landtagswahl eine Vielzahl von Aufstellungsparteitagen vorausgehen, um Direktkandidaten und Landeslisten in den jeweiligen Parteien zu wählen.

Da Thüringen momentan das Bundesland mit den höchsten Inzidenzwerten ist, wäre die Durchführung von Mitgliederversammlungen und Landesparteitagen in den kommenden Wochen ein besonderes Risiko gewesen. Dennoch müssen innerparteiliche Satzungen und die rechtlichen Hürden des Wahlgesetzes beachtet werden. Sollte es zu Kampfabstimmungen kommen, müsste es weiterhin möglich sein, den internen Wettbewerb trotz Auflagen der Landesregierung zu gewährleisten. Bei acht Wahlkreisen und sechs größeren Parteien und entsprechenden Landeslisten betrifft das mehr 50 einzelne Wahlveranstaltungen.

Besonders problematisch ist, dass Verstöße gegen die Wahlgesetze des Freistaats im schlimmsten Fall die Anfechtbarkeit der Wahl selbst zur Folge haben können. Der absehbar einfachste Ausweg war es daher, Zeit zu gewinnen und darauf zu hoffen, dass die Sommermonate größere Freiräume ermöglichen werden. Da im Superwahljahr 2021 neben der Bundestagswahl noch sechs Landtagswahlen stattfinden, ist es denkbar, dass auch andere Länder eine Verschiebung erwägen werden.

Doppeldenk im Doppel-Wahlkampf

Für die Liberalen zwischen Eisenach und Gera bedeutet die Verschiebung der Landtagswahl jedoch zusätzliche Herausforderungen. Die liberalen Wahlkämpfer werden die Landesregierung für ihr Krisenmanagement kritisieren und wollen sich als seriöse politische Alternative ins Spiel bringen. Das wird nach Thomas Kemmerichs Ausflug in die Erfurter Staatskanzlei schwieriger, wenn nicht gar unmöglich. Kemmerich verprellte mit der Annahme der Wahl zum Ministerpräsidenten jene, die die FDP neben CDU, SPD und Grünen als staatstragende Partei begreifen. Doch mit seinem Rücktritt enttäuschte er auch die FDP-Anhänger, die sich zuallererst eine Mehrheit abseits von Rot-Rot-Grün wünschten. Im Versuch, beiden Erwartungen halbherzig gerecht zu werden, verspielte er seine Glaubwürdigkeit für beide Seiten.

Zeitgleich zum Landtagswahlkampf wird nun auch der Wahlkampf für die Bundestagswahl stattfinden. Die Nachfragen, wie Thomas Kemmerich hinter einer Bundes-FDP stehen könne, die sich geschlossen gegen ihn ausgesprochen hat, sind absehbar. Als Landesvorsitzender werden er und seine Unterstützer beweisen müssen, ob und wie man erfolgreich zwei Wahlkämpfe führen kann – ohne von eigenen Widersprüchen übermannt zu werden.

“Doppeldenk” taufte George Orwell das Denken in immerwährenden Gegensätzen in seinem Roman 1984. In Erfurt erkennt man dem Vernehmen nach keine Widersprüche. Alles sei doch klar und geklärt. Parteifreunde, die Kemmerich länger kennen, sagen, dass er jedes Wendemanöver unternehmen würde, nur um an der Spitze seines Landesverbands bleiben zu können.

Es ist zu befürchten, dass der Erfurter Tango der Berliner FDP-Zentrale auf die Füße fallen könnte. Zur Zeit stehen die Zeichen politisch günstig für die FDP: eine angespannte Wirtschaftslage, ein Offenbarungseid in der Digitalisierung der Bildung und nie dagewesene Eingriffe in die Bürgerrechte. Den Liberalen werden die potentiellen Wahlkampfthemen geradewegs in die Arme getrieben. Man könnte mit neuem Schwung leicht über die momentanen Umfrageergebnisse hinauswachsen. Auch 2017 lag man noch im April bei fünf Prozent, um ein halbes Jahr später mit 10,7 Prozent den Wiedereinzug in den Bundestag zu schaffen.

Doch für diesen Erfolg waren der souveräne Blick nach vorn und das gute Abschneiden bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen maßgeblich. Sollte Thomas Kemmerich seiner politischen Intuition folgen, die ihn auch an der Corona-Demonstration in Gera teilnehmen ließen, wird sich zeigen, ob es diesmal bei einer Provinzposse bleibt oder er seine Parteifreunde im Bund nachhaltig irritieren kann. Zum Glück für die FDP: Merz-Anhänger in der Union und Scholz-Kritiker unter den Sozialdemokraten werden auch in ihren Parteien nicht auf Spott in den eigenen Reihen verzichten wollen.

Doppelhürde Bundestagswahl: Fünf Prozent sind relativ

Für die Liberalen wird der erneuerte Wiedereinzug in den Thüringer Landtag dennoch schwierig werden. Das liegt nicht bloß an dem hauchdünnen Vorsprung von weniger als hundert Stimmen, mit denen man im Herbst 2019 nach langer Zitterpartie den Einzug schaffte. Die FDP wird eine höhere Hürde überspringen müssen als 2019, weil gleichzeitig die Bundestagswahl stattfindet. Bundestagswahlen mobilisieren regelmäßig mehr Wähler und wer einmal in der Wahlkabine sitzt, füllt dann auch zwei Wahlzettel aus.

Entwicklung der Wahlergebnisse der FDP in Thüringen

Zur letzten Landtagswahl genügten der FDP bei einer Wahlbeteiligung von 64,9 Prozent 55.420 Stimmen. Sollte die Wahlbeteiligung ähnlich der Bundestagswahl 2017 in Thüringen ausfallen, müsste die Freien Demokraten auch für die Landtagswahl 10.000 Stimmen mehr erhalten. Viele vermuten, dass diejenigen, die die FDP im Bund wählen, auch im Land für die Liberalen votieren. Doch die Vergangenheit zeigte in allen ostdeutschen Bundesländern ein Mobilisierungsdefizit. Die Bundes-FDP für war überzeugender als ihre Pendants auf Landesebene. Sofern Landtags- und Bundestagswahlen gleichzeitig stattfanden, erzielten die Landesparteien schlechtere Ergebnisse und verpassten wiederholt den Einzug in die Landesparlamente. Auch die FDP Thüringen ereilte dieses Schicksal bereits 1994. Für die Bundestagswahl erhielt man 4,1 Prozent aller gültigen Stimmen, für die Landtagswahl nur 3,2 Prozent. Ein Szenario, das sich nun wiederholen könnte.

In Thüringen ist man sich freilich sicher, dass Thomas Kemmerich als authentischer Politiker jeden Schaden ausgleichen konnte. Derlei lokale Stärken waren in der Vergangenheit mehr Mythos als Realität. Einzig Cornelia Pieper mobilisierte als Spitzenkandidatin zur Landtagswahl 2002 in Sachsen-Anhalt mehr Stimmen als Guido Westerwelle zur Bundestagswahl im selben Jahr. Die FDP Sachsen gewann unter ihrem langjährigen Landesvorsitzenden Holger Zastrow 2009 knapp 180.000 Stimmen, zur Bundestagswahl vier Wochen später stimmten indes fast 300.000 sächsische Wählerinnen und Wähler für die FDP. Der Mythos der lokalen Urgesteine blieb zumeist nur Mythos.

Sollten die strategischen Erwägungen der Thüringer Liberalen die selbe Tiefe wie für die Ministerpräsidentenwahl haben, wird Glück allein nicht reichen, um sich zu erklären.

Ungewisse Aussichten in ungewissen Zeiten

Bei all diesen Unwägbarkeiten ist nur eines klar: Die FDP Thüringen muss sich für ein Profil entscheiden, wenn sie sich glaubhaft profilieren will.

Vor einem Jahr verspielte man allerhand Vertrauensvorschuss – im Land wie im Bund. Entsprechend müssen sich die Akteure vor Ort und in Rücksprache mit der Bundespartei einigen, für was die Liberalen in Thüringen stehen wollen. Egal wie man zur Annahme der Wahl oder dem Rücktritt Thomas Kemmerichs stehen mag: Ein Wiedereinzug in den Landtag entspräche einer Rehabilitierung durch den Wähler. Damit wäre politisch umzugehen. Es wäre nicht der erste Widerspruch, den die FDP in ihrer langen Geschichte integrieren müsste. Besonders wenn es entgegen der Erwartungen Dritter wieder auf die Stimmen der Freien Demokraten in Erfurt ankäme.

Der Mangel an Strategie könnte in dem Fall von akuten politischen Notwendigkeiten überdeckt werden. Die Biegsamkeit Thomas Kemmerichs könnte sich, wenigstens für den Moment, durchaus als nützlich erweisen und für die FDP zur zweiten Chance werden. Um am Ende zu bestehen, müssen Thüringens Liberale ihr Selbstverständnis zur politischen Verantwortung klären.

Der Coup Björn Höckes legte die Überforderung von CDU und FDP schonungslos offen. Der Schock hinterließ Zerwürfnisse, die weiterhin das Potenzial existenzieller Krisen für die Liberalen bergen. Wer in Enttäuschung und Selbsttäuschung verharrt, droht auch künftig das Mündel rechtsextremer Trickser und Schmeichler zu werden.

Es kann sein, dass die FDP fürs Erste zwischen Baum und Borke Platz nehmen muss. Mit Applaus ist dort nicht zu rechnen. Doch ein tauglicher politischer Kompass mag das Überdauern leichter machen. Erich Kästner riet für solche Fälle, nicht vom Kakao zu trinken, durch den man zuweilen gezogen wird.


Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung des Gastautors wider.


Gastautor

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