Zurück zur sozialen Marktwirtschaft

Was wir heute von Walter Eucken lernen können

Vor etwas mehr als siebzig Jahren starb Walter Eucken, einer der geistigen Vorväter der sozialen Marktwirtschaft. Während Karl Marx wieder en vogue scheint, sind Euckens Schriften fast in Vergessenheit geraten. Es ist Zeit für eine Renaissance seiner Ideen.

Wettbewerbsordnung statt Wieselworte

Fragt man heute in den Parteien nach ihrer Haltung zur sozialen Marktwirtschaft, so wird wohl kaum jemand etwas Negatives äußern. Von Linkspartei bis FDP beteuert jede Partei, fest zur sozialen Marktwirtschaft zu stehen. Das liegt auch daran, dass sich mit dem Wort „sozial“ ein „Wieselwort“ (F.A. Hayek) vor die „Marktwirtschaft“ geschlichen hat. Das haben einige zum Anlass genommen, unter dem Begriff eine Wirtschaftsform anzustreben, die nur noch wenig mit Marktwirtschaft zu tun hat. Andere wiederum lehnen unsere Wirtschaftsform als Ganzes ab. So wird im Rahmen der Klimaproteste der Ruf nach einem System Change laut. Es ist daher an der Zeit, die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes wieder den Vordergrund zu rücken.

Ein guter Ansatzpunkt dafür ist die von Walter Eucken angestrebte Wettbewerbsordnung 1. Diese ist ein bedeutender Teil des theoretischen Fundaments der deutschen Wirtschaftsordnung nach dem zweiten Weltkrieg. Zentraler Bestandteil der Theorie ist die Interdependenz der Ordnungen2 : Wirtschaftsordnung, politische Ordnung und gesellschaftliche Ordnung lassen sich nicht trennen. Freiheitseinschränkungen durch Machtkonzentrationen in einem Bereich der Gesellschaft führen unweigerlich zu einer Freiheitsgefährdung in den anderen Bereichen. Oberstes Ziel Euckens ist daher die Schaffung einer Wirtschaftsordnung, die Machtkonzentration in der Wirtschaft und damit auch in der Politik vermeidet. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Macht in privaten oder staatlichen Händen konzentriert ist.

Das beste Rezept dafür ist Wettbewerb. Nur der Wettbewerb der Parteien untereinander verleiht der Wahlentscheidung Gewicht und Bedeutung. Und nur der Wettbewerb der Unternehmen untereinander stellt sicher, dass der Konsument Macht besitzt: Die Macht, mit seiner Kaufentscheidung über Aufstieg und Untergang von Unternehmen zu entscheiden. Aber wie beeinflusst man die Wirtschaft so, dass die Macht der einzelnen Unternehmen beschränkt wird?

Eine neue Art zu denken – Das Denken in Ordnungen

Viele gehen fälschlicherweise davon aus, dass ein Tradeoff zwischen staatlicher Lenkung und der Freiheit des einzelnen Unternehmens besteht – also grob gesagt ein Tradeoff-Kontinuum zwischen Laissez-faire Kapitalismus und staatlicher Zentralverwaltungswirtschaft 3. Die Beschränkung privater Macht ließ sich also nur durch staatliche Eingriffe erreichen, die immer weitere Eingriffe nach sich zögen. Diese Interventionsspirale könnte in Hayeks befürchteten „Weg zur Knechtschaft“ resultieren.

Ein Staat, der versucht, private Machtkonzentrationen zu beschränken, landet nach dieser Logik unabwendbar in der Zentralverwaltungswirtschaft. Und diese Konzentration wirtschaftlicher Macht in Verbindung mit politischer Gewalt in der Hand des Staates führt letztendlich zur Einschränkung der Freiheit seiner Bürger. So kann eine Zentralverwaltungswirtschaft die freie Berufswahl seiner Bürger einschränken, indem sie Arbeitskräfte nach Bedarf zuteilt. Ja, sie muss es sogar tun, um die von ihr gesetzten Ziele erreichen zu können.

Um aus diesem Dilemma auszubrechen, muss man anders an die Frage der staatlichen Lenkung herangehen. Die ewig gleichen Diskussionen um „Kapitalismus“ und „Sozialismus“ sind hier wenig zielführend. Man sollte nicht mehr fragen, wie viel der Staat lenken soll, sondern was gelenkt werden soll4. Und diese Frage beantwortet Eucken ganz klar: Der Staat hat die Formen der Wirtschaft zu bestimmen, aber sich aus der Lenkung des Wirtschaftsprozesses selbst herauszuhalten. Man bricht also aus dem Tradeoff-Denken aus hin zu einem Denken in Ordnungen. Statt sich also wild in das Getümmel des Wettbewerbs zu werfen, sollte man erst einmal die Regeln des Spiels definieren.

Ziel und Grundsätze der Wettbewerbsordnung

Euckens Ziel ist die Schaffung einer funktionsfähigen, gerechten und menschenwürdigen Ordnung für die industrialisierte Wirtschaft. Für diese so genannte Wettbewerbsordnung hat er in seinem Buch „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“ mehrere konstituierende Prinzipien formuliert, die für diese Ordnung unbedingt notwendig sind.5

Erstens muss ein funktionsfähiges und freies Preissystem bestehen. Denn ohne freie Preisbildung hört die Wirtschaft auf, eine Marktwirtschaft zu sein. Dieses kann nur im Wettbewerb entstehen, da sowohl der Monopolist (oder das monopolistische agierende) Kartell, als auch der Staat durch Interventionen Preissignale verzerren. Subventionen werden demzufolge sehr kritisch gesehen. Was würde Eucken wohl zum Kohlekompromiss, Abwrackprämie und Kaufprämie für Elektroautos sagen?

Zweitens soll die Währungspolitik auf einen stabilen Geldwert abzielen. Eucken schlägt dafür einen möglichst automatisierten Prozess in einer unabhängigen Notenbank vor, der von äußeren Einflüssen weitgehende unbeeinflusst bleibt. Das Geldwertstabilitätsziel 6 soll dazu beitragen, dass das Preissignal unverzerrt bleibt. Insbesondere diese Forderung hat starken Einfluss auf die Geldpolitik der Bundesbank und der EZB ausgeübt. So strebt die EZB eine stabile Inflation von nahe, aber unter zwei Prozent an.

Drittens sollen Märkte möglichst offen sein. Das bedeutet, dass jedem der Zutritt gestattet ist. Denn ohne diesen freien Zugang kann sich kein fairer Wettbewerb entfalten. Dafür müssen Markteintrittsbarrieren abgebaut, Arbeitnehmern Bewegungsfreiheit gewährleistet und Gewerbefreiheit garantiert werden. Weiterhin soll möglichst Freihandel angestrebt werden. Aber auch der Austritt aus dem Markt muss gewährt werden, um ein Verkrusten der Strukturen des Marktes zu verhindern.

Viertens stellt das Privateigentum eine der wichtigsten Säulen der Wettbewerbsordnung dar – inklusive des Eigentums an Produktionsmitteln. Die Eigentümerin genießt vollkommene Verfügungsmacht und Verfügungsfreiheit, solange sie ihre Freiheit nicht aktiv dazu nutzt, die Freiheit anderer einzuschränken 7. Eine hoher Preis stellt alleine noch keine Freiheitsbeschränkung der Nachfrager dar, solange der hohe Preis nicht das Resultat eines Monopols ist. Ja, solange Wettbewerb und Konsumfreiheit herrschen, verhindert die Konkurrenz den Missbrauch privater Macht.

Sollte jedoch festgestellt werden, dass Privateigentum benutzt wird, um in die Freiheit anderer einzugreifen, sind Enteignungen das falsche Mittel – es sollte vielmehr durch Sicherstellen von Wettbewerb dafür gesorgt werden, dass das Privateigentum zum Nutzen von Verbraucher und Produzenten gleichermaßen eingesetzt wird.

Mit dem Privateigentum einher geht die fünfte Säule: Die Vertragsfreiheit. Diese ist in einer Marktwirtschaft absolut unentbehrlich. Ohne Haushalte und Betriebe, die frei über ihre Verträge und Vertragspartner entscheiden, kann sich der Wettbewerb nicht frei entfalten. Sie ist einzig dann einzugrenzen, wenn Verträge dazu genutzt werden, um die Vertragsfreiheit anderer einzuschränken. Ein Vertrag zwischen Automobilfirmen, die ein Nachfragekartell gegenüber Zulieferern bilden und damit deren Vertragsfreiheit beschränken, ist beispielsweise zu verbieten. Auch staatliche Eingriffe in die Vertragsfreiheit sind möglichst zu unterlassen. 8

Leider ist das sechste Prinzip dasjenige, welches mittlerweile nur noch selektiv Anwendung findet: Haftung. Die Haftung für die Fehlentscheidungen und Verträgen ist die Kehrseite der Medaille der Garantie des Privateigentums. Denn wer den Nutzen des Privateigentums genießt und die Früchte seines Gewinns ernten darf, der muss auch für entstandene Schäden und Verluste haften 9. Vielleicht führt gerade das Abweichen vom Prinzip der Haftung durch Bail-outs und Konzernrettungen zur starken Kritik an unserer Wirtschaftsordnung.

Das siebente und letzte konstituierende Prinzip ist die Verpflichtung zur Konstanz der Wirtschaftspolitik. Damit Haushalte und Betriebe ihre Konsum- und Investitionsentscheidungen auf fundierter Basis treffen können, sollten politische Entscheidungen möglichst auf Basis transparenter und fester Regeln getroffen werden. Sichere Zukunft und verlässliche Wirtschaftspolitik können Investitionen positiv beeinflussen.

Gerade dieser Fokus auf starr wahrgenommene Regeln ist Grundlage berechtigter Kritik am Ordoliberalismus: Denn oft wurden die einmal gegebenen Regeln quasi als gottgegeben angesehen und für sakrosankt erklärt. Um diese Kritik zu adressieren, sollte darauf geachtet werden, dass diese Regeln nicht als unveränderliches Dogma gesehen werden, sondern – sobald neue, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse vorliegen – angepasst werden.

Aufrechterhalten der Wettbewerbsordnung – die regulierenden Prinzipien

Sobald die Wettbewerbsordnung geschaffen ist, sind vier regulierende Prinzipien nötig, um das Fortbestehen dieser Ordnung zu sichern. 10

Zum ersten muss eine unabhängige Monopol- und Kartellaufsicht sicherstellen, dass keine Vermachtungen in der Wirtschaft entstehen. Außerdem soll sichergestellt werden, dass statt eines destruktiven Behinderungs- und Schädigungswettbewerbs ein konstruktiver Leistungswettbewerb geführt wird.

Zweitens soll mithilfe aktiver Einkommenspolitik des Staates zu starke Ungleichheit verhindert werden. So soll vermieden werden, dass eine Bevölkerungsschicht schon Luxusbedürfnisse erfüllt, während Teile der Bevölkerung ihre Grundbedürfnisse noch nicht erfüllen können. Eucken favorisiert hier sogar eine leicht (!) progressive Einkommensteuer. Auch diese Umverteilung kann helfen, die Stabilität der Ordnung zu erhöhen. Denn zu starke Ungleichheiten können das demokratische System – und damit auch die Wettbewerbsordnung – ins Wanken bringen.

Der dritte Punkt ist nicht zuletzt durch die Klimaproteste hochaktuell: Das Einbeziehen externer Effekte in die Wirtschaftsrechnung. So müssen negative Auswirkungen auf die Umwelt mit in die Preisberechnung mit einbezogen werden. Am besten geschieht dies durch marktwirtschaftliche Mechanismen – in Europa ist beispielsweise der Zertifikatehandel (ETS) für den Energiesektor mitverantwortlich für die Senkung der CO2-Emissionen. Es braucht also keine öko-soziale Marktwirtschaft – die soziale Marktwirtschaft bzw. Wettbewerbsordnung sind inhärent ökologisch.

Mit Hilfe all dieser Prinzipien will Eucken sicherstellen, dass sich die Macht nicht in einzelnen Unternehmen oder im Staat konzentriert, sondern beim Verbraucher. Nur wenige der in den aktuellen Debatten angedachten Ordnungen schaffen es, diese Verteilung der Macht zu erreichen und damit die größtmögliche Freiheit zu sichern.

Rückbesinnen auf das Erfolgsrezept statt System Change

Was können wir also von Eucken lernen? Es hilft wenig, in Talkshows und auf Demonstrationen nach einem Systemwechsel zu rufen, ohne über eine funktionierende und durchdachte Alternative zu verfügen. Stattdessen brauchen wir eine Rückkehr zu den Wurzeln der sozialen Marktwirtschaft, die Deutschland so erfolgreich gemacht hat. Es braucht weniger staatliche Intervention, mehr Haftung, konsequentes Einbeziehen externer Effekte und einen starken Staat. Damit ist kein ewig expandierender Staat gemeint, sondern ein Staat, der stark genug ist, den Beeinflussungsversuchen verschiedener Interessengruppen zu widerstehen.

Vor allem brauchen wir einen Staat, der vom verantwortungsbewussten Menschen ausgeht – einem souveränen Bürger, der auch souveräner Verbraucher ist – und gleichzeitig den Bürger mit einem funktionierenden Ordnungsrahmen in die Position versetzt, freie und kluge Entscheidungen zu treffen. Wir sollten uns wieder mehr auf dieses – dem Liberalismus eigene – positive Menschenbild besinnen, anstatt mehr und mehr Entscheidungsgewalt dem Staate überlassen zu wollen.


Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung des Gastautors wider.


  1. Detailliert dargelegt in seinen „Grundsätzen der Wirtschaftspolitik“[]
  2. „Alle Prinzipien – die konstituierenden und die regulierenden – gehören zusammen. Indem die Wirtschaftspolitik konsequent nach ihnen handelt, wird eine Wettbewerbsordnung aufgebaut und funktionsfähig gemacht. Jedes einzelne Prinzip erhält nur im Rahmen des allgemeinen Bauplanes der Wettbewerbsordnung seinen Sinn. Auf dieses Ergebnis stieß die Untersuchung immer wieder – ob es sich nun um die Vertragsfreiheit oder das Prinzip der Geldentstehung oder um irgendein Prinzip handelte. Die einzelnen Prinzipien ergänzen einander, sind komplementär.“, Walter Eucken „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“ S. 304[]
  3. Besser bekannt als Planwirtschaft[]
  4. „Ob wenig oder mehr Staatstätigkeit, diese Frage geht am Wesentlichen vorbei. Es handelt sich nicht um ein quantitatives, sondern um ein qualitatives Problem. “ W. Eucken, „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“, S. 336[]
  5. Siehe auch Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 254–291[]
  6. Dieses Ziel liegt derzeit bei einer Inflationsrate von nahe, aber unter 2%[]
  7. Zum Beispiel können Patente genutzt werden, Märkte abzuschotten. Eucken schlägt hier eine Form des Patents vor, in dem der Patenteigner gegen angemessene Gebühr verpflichtet ist, jedem Marktteilnehmer die Nutzung der Technologie zu erlauben.[]
  8. „Die Lenkung des Wirtschaftsprozesses durch „Verfügungen“ – etwa durch Dienstverpflichtungen, Zuteilungen, Produktionsanweisungen, Beschlagnahmen – schließt eine Lenkung durch vollständige Konkurrenz aus.“, Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 278[]
  9. „Wer den Nutzen hat, der muss auch den Schaden tragen.“ Ebd. S: 279[]
  10. Ebd. S. 291-304[]

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