Am Morgen des 1. Februar 2021 nimmt das Militär Myanmars, dem die Verfassung des Landes noch immer eine große Rolle einräumt, Regierungschefin Aung San Suu Kyi und zahlreiche weitere Funktionäre ihrer Partei Neue Demokratische Liga (NDL) fest. Der Vorwurf: Wahlbetrug bei der Parlamentswahl im November 2020, bei der die NDL die absolute Mehrheit geholt hatte. Faktisch handelt es sich jedoch um einen Putsch: Das Militär befürchtet, entmachtet zu werden. Für Deutschland und Europa besteht konkreter Handlungsbedarf.
Militärregierung und Bürgerkrieg
Myanmar1 ist ein von Bürgerkriegen und Militärdiktatur geprägtes Land. Seit der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1948 wurde das Land zum Großteil von einer zentralistischen buddhistischen Militärdiktatur regiert. Erst im Jahr 2010 wurden nach jahrzehntelangen Bemühungen um die Demokratisierung des Landes die ersten Wahlen seit 1990 durchgeführt. Trotz der ersten zaghaften Schritte in Richtung Demokratie, Freiheit und Menschenrechte gibt es zum Teil auch heute noch erbitterte Kämpfe im Land. Vor allem der Konflikt zwischen den christlichen Minderheiten der Shand und Karen ist trotz der voranschreitenden Demokratisierung nicht beigelegt und wird mal mehr, mal weniger aktiv ausgetragen. Zwar herrscht seit 2011 offiziell ein Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien, allerdings gab es seitdem wiederholt bewaffnete Konflikte zwischen den Truppen der Regierungsarmee und den Kämpfern der Shan.
In diesem seit 73 Jahren andauernden Konflikt haben die Regierung und das Militär Myanmars wiederholt Menschenrechtsverletzungen begangen. Von Folter über Zwangsarbeit, Vergewaltigungen bis hin zum Einsatz von Kindersoldaten hat das Militär vor keinem Mittel bei der Bekämpfung der ethnisch und religiösen Minderheiten zurückgeschreckt. Auch den Rebellen wird vorgeworfen, in einzelnen Fällen Kindersoldaten eingesetzt und Zivilisten zur Zwangsarbeit verpflichtet zu haben. Dennoch befinden sich die Shan und Karen in einer bedrohlichen Lage. Direkte Folge dieser abscheulichen Verbrechen sind hunderttausende Flüchtlinge, die unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen in Thailand und Bangladesch Schutz suchen. Seit den Wahlen im Jahr 2010 war eine leichte Trendumkehr zu erkennen, etwa im Open-Doors-Weltverfolgungsindex 2017. Dort belegte Myanmar nur noch Platz 28 von 50. Leider scheint diese Entwicklung nicht von nachhaltiger Natur gewesen zu sein: Im kürzlich erschienenen Weltverfolgungsindex von 2021 belegte Myanmar wieder Platz 18.
Neben den Konflikten der christlichen Minderheiten ist die muslimische Minderheit der Rohingya seit Jahren ebenfalls in einer bedrohlichen Lage. Die Zentralregierung verweigert ihnen essentielle Bürger- und Menschenrechte, sie werden systematisch diskriminiert und politisch verfolgt. Laut Einschätzung der UN von 2012 sind die Rohingya eine der am stärksten verfolgten Minderheiten der Welt. Zahlreiche Rohingya sind bereits geflohen, insbesondere nach Bangladesch. Die Zustände in den dortigen Lagern stehen denen im Lager Moria auf Lesbos (Griechenland) in nichts nach.
Der Putsch
In dieser komplexen Gemengelage lässt der aktuelle Putsch nicht Gutes erahnen. In einer Nacht- und Nebelaktion setzte das Militär die demokratische gewählte Regierungspartei NLD sowie deren Staatsrätin Aung San Suu Kyi ab und übernahm die Kontrolle. Suu Kyi, die einen wesentlichen Beitrag zur Demokratisierung des Landes beigetragen hat und dafür 1991 den Friedensnobelpreis erhielt, wird zusammen mit weiteren hochrangigen Politikern festgehalten. Es ist davon auszugehen, dass das Militär nach einer krachenden Wahlniederlage den völligen Machtverlust fürchtet und mit dem Putsch seine Machtbasis festigen will. In Anbetracht der brutalen und tyrannischen Regierung der letzten Militärdiktatur ist mit dem Schlimmsten zu rechnen.
Was passieren muss
Wie bereits zuletzt unter dem Titel “Remember Hongkong” auf dieser Seite dargelegt, kann man zu der Annahme kommen, das Auswärtige Amt sei blind für um Demokratie ringende Länder. Heute hat Deutschland eine unglückliche Chance erhalten, seine Schuld zu tilgen. Wir müssen beweisen, dass unsere freiheitlich-demokratischen Werte nicht nur leere Worthülsen sind. Die Situation der Karen, Shen und Rohyinga ist bedrohlich. Menschenrechte zählen für das Militär nicht, Gewalt gegen die verfolgten Gruppen und die Demokraten im Land steht an der Tagesordnung. Deutschland, Europa und die westliche Wertegemeinschaft sind in der Pflicht, sich mit allen diplomatischen Mitteln dafür einzusetzen, die rechtmäßige, demokratisch gewählte Regierung wieder einzusetzen.
Die dreisätzige Presseerklärung des Auswärtigen Amts versprüht wieder einmal nur wenig Tatendrang. Man verurteilt kleinlaut, man fordert auf, man bekräftigt seine Unterstützung für die Demokratie. Es ist jedoch nicht besonders kühn, die Prognose zu wagen, dass wieder nichts passieren wird. Die Volksrepublik foltert Uiguren in Umerziehungslagern, verleibt sich Hongkong ein, droht der Republik China (Taiwan) mit Krieg – nichts passiert. Der thailändische König regiert aus einem bayrischen Anwesen heraus diktatorisch sein Land – und erhält dabei noch Unterstützung. Stattdessen schließt die EU mit Peking ein neues Investitionsabkommen, Deutschland zahlt fleißig Entwicklungshilfe.
Es bleibt natürlich abzuwarten, wie Deutschland und die EU letztendlich reagieren. Man muss sich auf die Werte besinnen, die wirklich zählen: Demokratie und Freiheit. Werte- statt profitorientierter Außenpolitik würde der Bundesrepublik gut zu Gesicht stehen. Südostasien darf kein blinder Fleck auf der außenpolitischen Landkarte Deutschlands bleiben.
Mit Blick auf Myanmar bedarf es eines sofortigen, entschlossenen Vorgehens: Politische und religiöse Flüchtlinge aus Myanmar müssen in Deutschland vorbehaltlos Asyl erhalten, die bestehenden Flüchtlingslager in Bangladesch und Thailand unterstützt werden, um dort menschenwürdige Bedingungen zu schaffen. Eine Zusammenarbeit mit der nicht demokratisch legitimierten Militärregierung darf es nicht geben. Der Westen muss sich mit aller diplomatischen Ernsthaftigkeit dafür einsetzen, dass die Bürger Myanmars ihre rechtmäßige Regierung zurückerhalten.
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- früher auch bekannt als Burma / Birma, im englischen Sprachraum bis heute meist Burma.[↩]