Mit jeder Welle kam ein Traum

Wenn es keine reelle Chance gibt, seine eigene Vorstellungen umzusetzen, wird aus der positiven Dynamik in der Gesellschaft, die sich aus dem Verfolgen dieser Ziele ableitet, eine gefährliche Stagnation…

“Mit jeder Welle kam ein Traum…” so beginnt die Debütsingle “die perfekte Welle” der Pop-Rock-Band Juli, mit der sie 2004 die deutschen Single-Charts erobern. Und so wie jeden Tag abertausende von Wellen deutsche Küsten erreichen, entstehen auch jeden Tag neue Träume, Wünsche oder Begierden in der Gesellschaft. Diese Wünsche sind, auch wenn es sicherlich Gemeinsamkeiten in Aspekten wie dem Erreichen von Wohlstand, dem Finden der “wahren” Liebe und dem Gründen einer Familie gibt, höchst individuell. Ein (neues) Auto ist genauso ein Wunsch, wie das Erlangen eines Abschlusses, wobei das Erlangen eines solchen Abschlusses schon wieder andere Ansprüche, Träume und auch Ungewissheiten mit sich bringt.

Die Träume eines jeden Individuums sind dynamisch und entwickeln sich stetig weiter, obwohl es zugleich sicherlich noch vereinzelt Träume gibt, die einen ein ganzes Leben begleiten. Ziele, Träume, Hoffnungen die man mit 14 hat, hat man mit 18 wahrscheinlich schon wieder verworfen, transformiert und weiterentwickelt. Mit neuen Problemen entstehen neue Wünsche, mit dem Erreichen von alten Zielen, neue Zweifel und alte Träume, erweisen sich vielleicht nicht mehr als erstrebenswert und werden deswegen durch andere Begierden ersetzt. Der dynamische Prozess der Transformation wird durch neue Gegebenheiten, Erkenntnisse und Errungenschaften vorangetrieben.

Das alles lenkt allerdings von einem entscheidenden Faktor ab; Träume, Ideen oder Ziele sind, wenn die Verwirklichung durch unbeeinflussbare Faktoren unmöglich gemacht wird, erstmal wertlos. Wenn es keine reelle Chance gibt, seine eigene Vorstellungen umzusetzen, wird aus der positiven Dynamik in der Gesellschaft, die sich aus dem Verfolgen dieser Ziele ableitet, eine gefährliche Stagnation. Um diese Träume umzusetzen braucht es also, Handlungsoptionen – “die Möglichkeit etwas zu tun”.

Dem Surfer hilft es nicht weiter, wenn er zwar eine perfekte Welle gefunden hat, aber auf der anderen Seite ein kaputtes Surfboard besitzt und damit keine Chance besitzt, die Welle zu reiten.

Wir sehen schon, das hierbei entscheidende sind die Handlungsoptionen, also die “Gesamtsumme der Möglichkeiten und Gelegenheiten, die dem Einzelnen von seiner Gesellschaft geboten werden.”, die Ralf Dahrendorf unter dem Begriff der “Lebenschancen” subsumiert. Daraus leitet sich eine zentrale Aufgabe für die Politik ab, welche zugleich zum zentralen Motiv meines Artikels wird; “mehr Lebenschancen für so viele Menschen wie möglich” 

Eine Politik der Lebenschancen hat das Ziel, die Lebenschancen von so vielen Individuen wie möglich konstant zu erhöhen. Allerdings, ohne dabei bereits bestehende Lebenschancen von anderen Individuen willkürlich zu zerstören. Der zweite Satz ist besonders wichtig, weil sich ohne diesen eine Politik der “Gleichmacherei” begründen lassen würde, welche vielleicht zu mehr Gleichheit führt, aber ganz sicher nicht zu einem Mehr an Handlungsoptionen und Chancen. Eine Politik der Lebenschancen ist eine Politik, welche die Menschen nicht an den Staat bindet, sondern sie zur Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit befähigt. Oder anders gesagt; eine Politik, die jedem Menschen zwar ein sicheres sozialstaatliches Fundament zu Verfügung stellt, aber gleichzeitig jedem Individuum ein Leiter baut, um sich vom Boden der Abhängigkeit in den Himmel der Unabhängigkeit zu bewegen. Eine Politik der Lebenschancen macht die Herkunft, die soziale Klasse, das Geschlecht oder den familiären Hintergrund nicht mehr zu den bestimmenden Faktoren im Leben, die Menschen daran hindern ihre Träume zu verwirklichen. Sie arbeitet aktiv darauf hin, dass nur noch die eigene Leistung für den eigenen Erfolg ausschlaggebend ist.

Nachdem die theoretischen Grundlagen für meine Argumentation nun erläutert wurden, möchte ich genauer erläutern was ich persönlich unter einer “Politik der Lebenschancen” verstehe. Bevor ich nun erkläre, welche staatlichen Maßnahmen ich für notwendig halte, möchte ich noch eine Bedingung, wenn nicht sogar, die notwendige Bedingung nennen, die die Voraussetzung für “mehr Lebenschancen von so vielen Menschen wie möglich” ist. Die notwendige Bedingung ist für mich die offene Gesellschaft.

Eine solche Gesellschaft verhindert Anomie und Totalitarismus zugleich und gibt dem Individuum dennoch genug Luft zum Atmen und Unabhängigkeit vom Staat. Was die offene Gesellschaft einem nicht geben kann, ist absolute Sicherheit und unterkomplexe Lösungen, nirgendwo. In ihr gibt es keine verbindlichen Wahrheiten, sondern immer neue Gedanken und Ideen, die notwendig sind, damit sie sich entwickeln und entfalten kann. Doch vor allem befindet sich die offene Gesellschaft in einem ständigen Kampf gegen die Feinde der offenen Gesellschaft, die falsche Wahrheiten und einfache Lösungen anbieten, Hass schüren und demokratische Errungenschaften in Verruf bringen.

Der Kampf gegen diese Demagogen lohnt sich und muss gerade von Liberalen, immer und immer wieder geführt werden, da die offene Gesellschaft Grundlage für unsere liberale Demokratie und ein fruchtbarer Boden für unsere soziale Marktwirtschaft ist. Die offene Gesellschaft schafft das Fundament für eine Politik, die für mehr Lebenschancen für mehr Menschen sorgt. Daraus leitet sich für mich auch die wichtige Erkenntnis ab, dass nicht der Staat das wichtigste Puzzleteil in einer Politik der Lebenschancen ist, sondern die aktive Bürgergesellschaft. Diese aktive Bürgergesellschaft muss den Kampf um die offene Gesellschaft jeden Tag aufs neue führen und gleichzeitig die Strukturen in sich beseitigen, welche die Handlungsoptionen anderer Individuen einschränken. Nur so, können alle Menschen ihre Vorstellungen umsetzen.

Um jetzt zu erläutern welche staatlichen Maßnahmen ich erwarte, möchte ich mich primär auf die Bildungs und Sozialpolitik fokussieren, wobei ersteres einen höheren Stellenwert besitzt. Dabei möchte ich nochmal konkret Bezug auf das Beispiel des Surfers nehmen und anhand dieses Bildes die Rolle von staatlicher Politik erläutern.

Die offene Gesellschaft ist, wie oben beschrieben, das Fundament für eine Politik der Lebenschancen. Und für dieses Beispiel, im übertragenen Sinne, die Küste, welche durch die Wellen, die exemplarisch für die Ideen, Vorstellungen, Wünsche der Individuen in dieser Gesellschaft stehen, geformt und weiterentwickelt wird. Der Surfer bildet natürlich das Individuum ab, welches versucht durch das Bezwingen der Wellen, seine Träume, Wünsche oder Ziele zu erreichen. Das schafft er aber nur, wenn er ein starkes Surfbrett hat, mit welchem er die Wellen bezwingen kann.

Und hier kommt nun die Politik ins Spiel. Diese hat die Aufgabe dem Surfer die Werkzeuge in die Hand geben, damit er sich sein eigenes individuelles Surfbrett bauen kann (Bildungspolitik) und, falls er es braucht, die Materialien zu Verfügung zu stellen, um dieses zu reparieren (Sozialpolitik). Das heißt natürlich nicht, dass er mit diesem Surfbrett bereits Riesenwellen in Nazaré bezwingen kann, aber es gibt ihm die Möglichkeit, sich schrittweise seinen Zielen anzunähern. 

Fangen wir mit Bildungspolitik an. Bildungspolitik hat die “Gleichheit der Bildungschancen” als Ziel oder anders gesagt, dass jeder Schüler sein Bürgerrecht auf Bildung, wie Ralf Dahrendorf es nennt, im vollem Umfang wahrnehmen kann, ungeachtet sozialer,familiärer oder finanzieller Verhältnisse. Sie muss es also schaffen, dass möglichst niemand durchs Raster des Bildungssystems fällt und jeder es schafft, einen für ihn passenden Lebensweg einzuschlagen. Die Tochter von Hartz-IV Beziehern und der Sohn von einer Flüchtlingsfamilie aus Syrien müssen also, genauso wie eine Legasthenikerin oder ein Hochbegabter, die Möglichkeit bekommen, das Beste aus ihrem Leben zu machen.  

Kleinere Klassen, mehr Lehrer und beispielsweise ein Sozialpädagoge pro Klasse, welcher die Lehrer dabei unterstützt, auf die individuellen Wünsche und Probleme der Schüler einzugehen, wären ein erster Schritt um die Teilhabe zu stärken. Ein zweiter Schritt wäre es ganz gezielt in Talentschulen zu investieren, es ist doch ganz offensichtlich dass Schulen in Problemvierteln, in welchen das Deutsch-Niveau schlecht ist und viele Hartz-IV-Empfänger leben, mehr Investitionen benötigen als ein “normales” Gymnasium in Blankenese. Ein dritter Schritt wäre es, den Schulen mehr Eigenständigkeit zuzugestehen. Wenn sich Schüler zwischen einer Gemeinschaftsschule, einem Wirtschaftsgymnasium und einer Schule, die einen speziellen Kunstzweig hat, entscheiden können, können sie ihre Talente womöglich am besten verwirklichen.

Es darf auch nicht der Wohnort der Eltern über das Bildungsniveau entscheiden, ob man aus Brandenburg oder Bayern kommt, sollte keine Rolle spielen. Eine Reform des Bildungsföderalismus ist dringend nötig, anstatt sich in Kleinstaaterei zu verlieren, sollte man überlegen, wie man das Bildungsniveau in Bayern und Brandenburg in 15-20 Jahren stufenweise auf ein ähnliches Niveau anhebt.

Vielleicht kann man auch meine letzten drei Sätze miteinander kombinieren, auf der einen Seite mehr Selbstständigkeit für die Schulträger und auf der anderen Seite mehr Kompetenzen für den Bund im Punkto Finanzierung, Abschlüsse und allgemeine Standards. All das kann nicht innerhalb von 2 Jahren umgesetzt werden, sondern muss Schritt für Schritt vorangetrieben werden. Bildung ist ein breites und komplexes Thema, den Themenkomplex Digitalisierung hatte ich noch nicht mal berücksichtigt, welches einen eigenen Artikel benötigt, aber eins ist klar: Bildungschancen sind Teilnahmechancen, und ermöglichen ein mündiges und selbstbestimmtes Leben und sind deswegen elementarer Bestandteil einer Politik der Lebenschancen. 

Gute Bildungspolitik ist die beste Grundlage für eine individuelle Sozialpolitik, weil sie immer mehr Menschen dazu befähigt, ein selbstbestimmtes Leben ohne “soziale Krücken” zu führen. Und zusätzlich dadurch mehr Ressourcen zu Verfügung stehen, die Menschen aufzufangen, welchen dies gerade, warum auch immer, misslingt. Bei erfolgreicher Sozialpolitik geht es darum, jedes Individuum als eigenständigen Menschen mit all seinen Rechten ernst zu nehmen und ihn nicht als ein Sandkorn von Millionen zu betrachten, welches durch die Gezeiten der Bürokratie zerrieben wird. Ein moderner Sozialstaat muss für alle, die ihn brauchen, da sein. Aber sich gleichzeitig immer und immer wieder darum bemühen, jedem Menschen Chancen zu geben, sich der sozialstaatlichen Abhängigkeit zu entziehen. 

Eine Reform der Zuverdienstregelung von Arbeitslosen und deren Kinder wäre der erste Schritt, es ist schlichtweg nicht erklärbar, warum eine solche Regelung den Transferbezug attraktiver als den Weg in die Unabhängigkeit macht. Und gleichzeitig die Aufstiegschancen von Kindern an die familiären Zustände kettet. Das gleiche gilt im übrigen auch für Kinder die im Heim aufwachsen und 75% ihres Gehaltes für Unterbringungskosten abgeben müssen. Ein zweiter Schritt wäre eine Vereinfachung aller Sozialleistungen, sodass Bedürftige nicht mehr durch mehrfache Amtsgänge und ein undurchschaubares bürokratisches System, welches die Probleme, die es zu lösen versucht, verfehlt, gegängelt werden und den Mut verlieren. Das von der FDP vorgeschlagene Liberale Bürgergeld wäre hier, die genau richtige Reform.

Sozialpolitik muss sich, wie Bildungspolitik, als Chancenpolitik verstehen. Sie muss versuchen, den Menschen Treppen zu bauen, die in die Unabhängigkeit führen. Willy Brandt hatte Recht damit, als er 1989 in seinem Buch “Erinnerungen” betonte, dass ein freiheitlicher Sozialstaat “bürokratische Überwucherung” verhindern müsse und zugleich “eigenverantwortliches Engagement” groß schreiben sollte. Das erreicht man aber weder durch Sanktionspolitik, noch durch eine übermäßige Almosen-Kultur. Sondern durch eine Sozialpolitik, die Betroffenen Mut macht und ihnen Perspektiven gibt, welche sie selbstbestimmt ergreifen können.

Welche Partei wäre für eine solche Politik der Lebenschancen prädestinierter als die FDP, die sich spätestens seit den Freiburger Thesen auf die soziale Seite des Liberalismus und starke Kämpfer für Aufstiegs und Teilhabechancen durch Bildung wie Karl Hermann Flach, Hildegard Hamm-Brücher oder eben Ralf Dahrendorf berufen kann?

Eine FDP, die sich als Partei der Aufsteiger sieht, die es ohne Frage in Deutschland gibt und vor deren Lebensleistung man den höchsten Respekt haben muss und gleichzeitig dafür eintritt, dass immer mehr Menschen den Aufstieg durch Bildung schaffen, kann nicht ganz unverschuldete-Vorurteile in der Bevölkerung beseitigen und sich gleichzeitig als Reformkraft der Mitte präsentieren.

Eine FDP, die es schafft, ein Konzept wie das liberale Bürgergeld besser zu kommunizieren, kann bei einer Vielzahl von Menschen punkten, die zwar Befürworter staatlicher Sozialpolitik sind, die ihnen einen angemessenen Lebensstandard sichert, aber gleichzeitig Gegner, eines undurchschaubaren Sozialstaats, der sie zum wehrlosen Spielball von gewaltigen Bürokratien macht.

Eine FDP, die Bildung als zentrales Element für soziale Teilhabe und sozialen Aufstieg propagiert, kann die alleinerziehende Friseurin genauso wie den Fließbandarbeiter, die beide das beste für ihre Kinder wollen, mit ihren Konzepten überzeugen. In NRW, wo 2017 150.000 ehemalige SPD-Wähler der FDP ihre Stimme gegeben haben, geht man mit der gezielten Förderung von Talentschulen und zusätzlichen Investitionen von einer Milliarde Euro in Kitas, genau in die richtige Richtung.

Eine FDP, die sich als stärkster Verteidiger der offenen Gesellschaft präsentiert, kann zu einer entscheidenden Reformkraft der Bürgergesellschaft werden. Liberaler Antifaschismus ist hierbei genauso wichtig wie das Eintreten für Menschenrechte und Demokratie in Weißrussland oder Hongkong. 

Eine FDP, die es schafft, inhaltlich und kommunikativ für all diese Themen einzustehen, ist auf dem richtigen Weg. 

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