Schluss mit den Schwammwörtern

Begrifflichkeiten wie die des “Neoliberalismus” verschwimmen in der politischen Debatte immer mehr. Teilweise wird ihnen das Gegenteil ihrer eigentlichen Bedeutung zugeschrieben. Unser Gastautor geht den Schwammwörtern auf den Grund.

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Neoliberalismus. So scheint es jedenfalls, wenn man die Diskussionen in Zeitungen und sozialen Netzwerken verfolgt, die vom „neoliberalen Mainstream“ oder gar „neoliberaler Hegemonie“ sprechen. In diesen Beiträgen ähnelt der Neoliberalismus dem Schreckgespenst aus Stephen Kings Kurzgeschichte, das nur darauf wartet, dass die Eltern ins Bett gehen, um das Kind im Bett zu ersticken.

Liest man allerdings genauer, fällt einem auf, dass der dort beschriebene Neoliberalismus eher dem Irrwicht aus Harry Potter ähnelt, der immer die Gestalt dessen annimmt, was der Betrachter am meisten fürchtet. Was wird ihm nicht alles zugeschrieben: Lobbyismus, Bailouts (Staatliche Rettungsaktionen für Unternehmen, Anm. d. Red.) und soziale Kälte sind nur einige der Sachen, für die angeblich die liberalen Denker des 20. Jahrhunderts den Weg bereitet haben sollen.

Verzerrungen

Taucht man allerdings in die Werke derer ein, die so schonungslos an den Pranger gestellt werden, wird man mit Erstaunen feststellen, dass sie exakt die Dinge kritisiert haben, die ihnen nun zugeschrieben werden: Walter Eucken und Friedrich August von Hayek warnten vor der Einflussnahme von Interessengruppen auf demokratische Entscheidungsprozesse. Haftung ist eines der zentralen Konzepte der sozialen Marktwirtschaft und ein zentrales Motiv der neoliberalen Denker war die christliche Nächstenliebe.

Der Neoliberalismus ist nicht das einzige Wort, das unter dieser Verzerrung leidet. Auch der Kapitalismus wird gerne für alles Übel der Welt verantwortlich gemacht. Es ist richtig, dass das Prinzip der Gewinnmaximierung nicht immer zu optimalen Ergebnissen für Mensch, Tier und Umwelt geführt hat. Allerdings ist es schwer, „den“ Kapitalismus zu definieren: Meint man den Manchester-Kapitalismus, den rheinischen Kapitalismus, die Digital Economy oder die Form des Kapitalismus in den skandinavischen Ländern, die unsere Freunde auf der anderen Seite des Atlantiks schon als sozialistisch empfinden?

Herr Tur Tur

Am letzten Beispiel wird eines klar: Kapitalismus, Sozialismus und weitere Wörter sind zu bedeutungslosen Schwammwörtern geworden, die in jede Form gepresst werden, um in das jeweilige Narrativ zu passen. Gerade Kapitalismus und Sozialismus werden oft als unvereinbare Antagonisten dargestellt. Ergebnis dieser falschen Dichotomie ist, dass politische Maßnahmen reflexhaft abgelehnt werden, weil sie sofort ein Label verpasst bekommen. Eine Krankenversicherung ebnet nicht unbedingt den Weg zur Knechtschaft und die Privatisierung von Staatsunternehmen führt nicht zwangsläufig in die Versklavung durch Großunternehmen.

Anstelle dieser Grundsatzdebatten über unklar definierte Begriffe ist es wesentlich zielführender, konkrete Maßnahmen und deren Auswirkungen zu diskutieren. Preiskontrollen sind nicht deswegen abzulehnen, weil sie sozialistisch sind, sondern weil sie zu einer Verknappung des Angebots führen, die meist den unteren Einkommensschichten schadet. Bailouts sind nicht deswegen verwerflich, weil sie Werkzeug des Crony Capitalism sind, sondern weil sie gefährliche Auswirkungen auf Anreizstruktur, Wettbewerb und Risikoverhalten haben.

Vielleicht stolpert man bei der Suche nach Argumenten auch über ein Werk der neoliberalen Ökonomen und kommt zu einer wichtigen Erkenntnis: Neoliberalismus ähnelt weder Kings Schreckgespenst, noch Rowlings Irrwicht, sondern vielmehr dem Scheinriesen aus Michael Endes „Jim Knopf“. Aus der Entfernung betrachtet wirkt Herr Tur Tur furchteinflößend, aber je näher man ihm kommt, desto harmloser wirkt er. Und vielleicht hilft der Neoliberalismus auch, einen Weg aus einem politischen Dilemma aufzuzeigen. So wie der Scheinriese Jim, Lukas und Emma hilft, den Weg aus der Wüste zu finden.


Der Gastbeitrag spiegelt die Meinung des Gastautors wider.


Gastautor

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