Merkel-Interview „Farbe bekennen“: Nichts schiefgelaufen?

Am Abend des 2. Februar 2021 stellte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Primetime den Fragen von Tina Hassel und Rainald Becker. Das Interview in der ARD dokumentiert die Hilflosigkeit der Bundesregierung.

Foto: CDU / Laurence Chaperon

„Verspielt die Politik gerade das höchste Gut in dieser Krise – das Vertrauen der Bürger?“ So leitete Tina Hassel, Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios, das als “Farbe bekennen” getaufte Interview mit der Kanzlerin ein. Zuvor: Ein Impfgipfel mit ernüchterndem Ergebnis nach harten Lockdown-Wochen – weitere stehen bevor. Eine Politik, die nicht zu wissen scheint, wie es weitergeht. Merkel bewies: Das Krisenmanagement ist am Ende.

„Ein Impfgespräch“

Merkels Einstieg: Für sie sei der im Vorfeld angekündigte Impfgipfel ein „Impfgespräch“ gewesen – „damit man nicht das überhöht [sic].“ Sie und alle anderen hätten etwas gelernt, so ihr Fazit. Wunderbar. Unglücklicherweise ist es aber so, dass wir seit fast einem Jahr in einer Pandemie leben. Dass unsere Grundrechte eingeschränkt sind wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Dass Menschen psychisch unter dem Leben im Lockdown leiden. Dass Jobs verloren gehen und Bildungschancen leiden wie nie. Aber gut: Man hat etwas gelernt!

Dennoch: Man habe nun ein Gerüst, an dem man sich orientieren könne, so Merkel. Nun gut: Die Zulassung des BioNTech/Pfizer-Impfstoffs ist ja schließlich auch erst 43 Tage her. Das „Gerüst“ bereits im Vorfeld der Zulassung aufzubauen, wäre ja auch wirklich eine tollkühne Idee gewesen! Sich an den Herstellern ein Beispiel zu nehmen, die im August unter hohem Risiko die Produktion hochfuhren? Nein, man orientierte sich lieber an der Bildungspolitik, die seit Sommer nicht auf die Idee kam, sich außer innovativen Lüftungskonzepten (Fenster öffnen!) für Klassenzimmer etwas auszudenken.

„Im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen“

Klingt nach Realsatire? Der Knüller kam erst noch: Auf Beckers Frage hin, was die Europäische Union denn eigentlich gemacht habe, antwortete Merkel allen Ernstes, es sei „im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen“. Die Statistiken sprechen eine andere Sprache: Der EU im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen fehlt der Impfstoff. Natürlich wurme es einen, wenn man sich die Zahlen aus Israel, den USA oder dem United Kingdom anschaue, aber dort habe man ja auch eine Notzulassung gemacht, so Merkel.

Ja, hat man. Warum in der EU nicht? Laut Merkel, weil man auf das Vertrauen der Bürger angewiesen sei. Interessanterweise ist es so, dass die britische Medicines and Healthcare products Regulatory Agency (MHRA) und ihre Experten auch bei der für die EU-Zulassung zuständigen European Medicines Agency (EMA) großes Vertrauen genießen. Nicht nur das: Bis 2019 hatte die EMA ihren Sitz in London, der Umzug nach Amsterdam wurde erst durch den Brexit notwendig. Der Virologe und Epidemiologe Prof. Dr. Alexander Kekulé beschrieb die Zulassungsverfahren gar so:

Wenn MHRA den Daumen gehoben hat, dann haben die anderen eigentlich auch immer automatisch genickt, weil die wussten es ist gut gemacht.1

Prof. Dr. Alexander Kekulé

Was man daraus nun schlussfolgert, sei jedem selbst überlassen. Klar ist jedoch: Merkels Darstellung von der vertrauensschädigenden Notzulassung ist aus der Luft gegriffen. Deutschland und die EU haben mit ihrem Vorgehen einen Weg eingeschlagen, der sich in der Retrospektive als grob fahrlässig herausstellen könnte.

„Mit mehr Geld nicht mehr Impfstoff“

Wunderbar, dass im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen ist. Aber wenn man mehr bezahlt hätte, hätte man doch sicherlich nun mehr Impfstoff zur Verfügung haben können, oder? War die EU zu geizig? Nein, sagt Merkel. Es liege an den Produktionskapazitäten, die USA exportierten nicht. Dass Deutschland selbst die EU gerade eben noch zu einem völligen Exportverbot bewegen wollte, fiel elegant unter den Tisch. Aber BioNTech baue ja in Marburg gerade neue Kapazitäten auf.

So weit, so gut. Unpraktisch bloß, dass kurz vor Ausstrahlung des Interviews die Süddeutsche Zeitung aus einem Brief von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) zitiert, in dem sie die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten zu ermuntern versucht, gemeinsam mit der EU die Produktionskapazitäten auszubauen. Bestehende Fabriken sollten erweitert oder umgewidmet und neue gebaut werden. Finanziert aus dem EU-Haushalt. Anscheinend sorgt mehr Geld also doch für mehr Impfstoff.

Lockerungen?

Becker sprach daraufhin die für den 10. Februar angesetzte Ministerpräsidentenkonferenz und mögliche Lockerungen an. Hier wirkte Merkel beinahe souverän. Bund und Länder würden gemeinsam an einer „Öffnungsperspektive“ arbeiten, natürlich an den Inzidenzwerten orientiert. Die Gesundheitsämter müssten wieder die Kontakte nachverfolgen können, um einen „nachhaltigen Weg aus der Pandemie“ zu finden. Ebenjene Gesundheitsämter, die bis heute mit Faxgeräten und Papierlisten versuchen, Kontakte nachzuverfolgen und Infektionszahlen an das Robert-Koch-Institut übermitteln.

Zudem erwarte man Anfang nächster Woche Zahlen, wie weit die britische B117-Variante und andere Mutationen in Deutschland verbreitet seien. Reichlich spät, denn Deutschland legt mit dem Sequenzieren des Virus schließlich gerade erst richtig los. Warum? Darauf gibt es bis heute keine Antwort. Jedenfalls, so Merkel, hingen Lockerungen nicht von der Impfquote ab, wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) noch vor Kurzem suggeriert hatte. Man erhält den Eindruck, die Mitglieder der Bundesregierung würden nicht miteinander reden. Auf wessen Wort kann man sich nun verlassen?

Impfpflicht reloaded?

Gegen Ende des Interviews brachte Merkel dann noch einen Punkt auf, der für Verwunderung sorgt. In Bezug auf Menschen, die das Impfangebot nicht wahrnehmen wollten, sagte Merkel, es gebe zwar keine Impfpflicht, jedoch dann wörtlich: „Dann muss man vielleicht schon solche Unterschiede machen und sagen: Okay, wer das nicht möchte, der kann vielleicht auch bestimmte Dinge nicht machen.“

Es klingt wie die Ankündigung einer Quasi-Impfpflicht. „Bestimmte Dinge“? Was das bedeuten soll, darüber kann nur spekuliert werden. Ebenfalls darüber, wie viel die zahlreichen Dementi aus der CDU wert sind, dass eine (Quasi-)Impfpflicht nicht kommen werde. Die Aufhebung von Freiheitseinschränkungen mit einer anderen Freiheitseinschränkung zu erkaufen kann jedenfalls nicht der Weg aus der Krise sein.

Es wird Herbst

Bis zum 21. September solle jeder ein Impfangebot bekommen, hieß es weiter. Dass das die Woche vor der Bundestagswahl sei, habe damit natürlich nichts zu tun. Es liege daran, dass es der 21. September den meteorologischen Beginn des Herbstes markiere und man das Sommerende als Zeitpunkt genannt habe. Spät, aber nichts Neues. Lockerungen für Geimpfte stünden jedenfalls nicht an, bis geklärt sei, ob von diesen möglicherweise eine Ansteckungsgefahr ausgehen können. Durch Mutationen ohnehin wahrscheinlich, von daher auch die Diskussion nicht wert.

Zum Schluss gab es dann, mit Bezug auf die Ostertage, noch den Standard-Appell: „Abstand halten, wirklich vorsichtig sein, und wenn wir dann noch eine Weile durchhalten, dann wird es besser werden.“ Wie ein Tonband. Es steht exemplarisch für die (Nicht-)Strategie der Bundesregierung in dieser Pandemie. „Noch eine Weile“ – Wochen, Monate? Die Belastungsgrenzen der Wirtschaft, des Staatshaushalts und eines jeden einzelnen Menschen sind erreicht. Die Bürger suchen Antworten, wollen ihre Freiheiten zurück. Diese Antworten bleibt die Regierung schuldig. Wie so oft im vergangenen Jahr.

Fußnote

Was war noch? Ach ja, beiläufig schlug Tina Hassel vor, den Pipetten-Sozialismus einzuführen und Unternehmen zur Produktion der für die Impfungen benötigten Materialien zu verpflichten. Als hätte der Markt seine Effizienz nicht gerade eben am Beispiel der FFP2-Masken bewiesen. Die bekommt man mittlerweile in jedem Supermarkt – und das für weniger als die Selbstbeteiligung bei der staatlichen Apothekenbestellung. Aber gut: Es bleibt eine Fußnote im Meer der Fußnoten dieser Pandemie.

  1. MDR Info, „Kekulés Corona-Kompass”, Folge 128, 03.12.2020, Transkript S. 7.[]

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