Belarus – Europas letzte Diktatur

Seit der manipulierten Präsidentschaftswahl im August 2020 reißen die Proteste in Belarus nicht ab – in Europa liegt der Fokus aber längst wieder auf anderen Themen. Politik und Medien müssen die Augen offenhalten.

Die Nacht vom 9. auf den 10. August 2020 war sicherlich einer der bewegendsten, aber auch beängstigendsten Momente des vergangenen Jahres. Allein in Minsk protestierten rund hunderttausend Menschen gegen Diktatur, Unterdrückung und Wahlfälschung, für Demokratie und Menschenrechte. Polizei und Militär griffen mit aller Härte ein, friedliche Demonstranten wurden mit Schlagstöcken, Blendgranaten und Gummigeschossen attackiert. Tausende Festnahmen, Folter, hunderte Schwerverletzte und ein von der Polizei trotz erhobener Hände standrechtlich erschossener Demonstrant waren das Resultat der ersten beiden Tage des Protests.

Man muss sich dazu eines vor Augen führen: Die Ereignisse wirken fernab von uns. Dabei liegt Minsk gerade einmal 1.100 Kilometer entfernt von Berlin – das ist etwa die halbe Strecke nach Mallorca oder genauso weit wie nach Paris. Die geschilderten Ereignisse finden also nicht irgendwo in Fernost oder Südamerika statt, sondern direkt vor unserer Haustür.

Die letzte Diktatur Europas

Die Republik Belarus ist bekannt als „letzte Diktatur Europas“. Seit 1994 regiert Präsident Aljaksandr Lukaschenka das Land. Formal ist er demokratisch gewählt – Wahlmanipulationen sei Dank. Dass er rein rechtlich überhaupt noch im Amt sein darf, verdankt er einer rechtsstaatlich höchst fragwürdigen Verfassungsänderung im Jahr 2006, durch die er sich der Amtszeitbegrenzung von zwei Wahlperioden entledigte. Seitdem wurden bei jeder Präsidentschaftswahl gut begründete Manipulationsvorwürfe laut. An angebliche Erdrutschsiege wie den im August 2020 mit – offiziell – 80,08 Prozent der Stimmen kann bei dem breiten Widerstand in der Bevölkerung niemand ernsthaft glauben.

Belarus ist das einzige Land in Europa, das noch immer die Todesstrafe vollstreckt. Das mysteriöse Verschwinden von Oppositionellen ist an der Tagesordnung. Presse und Rundfunk sind zu 95 Prozent in staatlicher Hand, kritische Journalisten müssen mit Repressalien rechnen. Lukaschenka macht keinen Hehl aus seiner Homophobie, LGBTQ*-Organisationen und -Aktivisten werden staatlich diskriminiert, Paraden verboten, der Zugang zu internationalen Internetportalen gesperrt. Folter und Gewalt im Umgang des Staatsapparats mit Inhaftierten sind Alltag in Belarus. Der Geheimdienst trägt bis heute den geschmackvollen sowjetischen Namen KGB (deutsch: Komitee für Staatssicherheit).

Unter Lukaschenka lebt die Wirtschaftsphilosophie der Sowjetunion fort. Planwirtschaft ist seine Devise. Die Zentralbank untersteht direkt dem Präsidenten. Etliche Unternehmen sind bis heute in staatlicher Hand. Private Akteure werden staatlich massiv beschränkt oder direkt kontrolliert. Korruption ist an der Tagesordnung. Dass dieses System bis heute noch keinen Zusammenbruch erlebt hat, erklärt sich insbesondere durch Beziehungen nach Russland, die jedoch aufgrund energiewirtschaftlicher Querelen immer wieder infrage stehen.

Die Liste von Ländern, zu denen Belarus ansonsten gute Beziehungen pflegt, ist ein Best Of des Autoritarismus und der Unfreiheit: Neben Nordkorea, Syrien oder dem Iran reihen sich dort auch die Volksrepublik China, Venezuela und Kuba ein. Alles andere ist beschönigend, ja geradezu verklärend: Lukaschenka ist ein Diktator. Der letzte in Europa.

Allein auf weiter Flur

Ja, Belarus ist Teil Europas. Selbstverständlich. Obwohl das Land als einziges neben Vatikan1 und Kosovo2 kein Mitglied des Europarats ist und somit – sogar anders als Russland(!) – seinen Bürgern den Zugang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verwehrt. Die belarussische Opposition setzt sich für den Beitritt zum Europarat ein, während die Regierung einen Sondergaststatus beabsichtigt – offenbar verspricht man sich wirtschaftliche Vorteile ohne gleichzeitige Geltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Von der Russischen Föderation wird Belarus als Pufferzone zwischen den NATO-Staaten und dem russischem Hoheitsgebiet betrachtet. Nicht umsonst wurden russische Truppen im Zuge der Aufstände 2020 auf dem Weg nach Belarus gesichtet. Bereits vor der Wahl wurden in Minsk 33 russische Söldner festgenommen – Lukaschenka fürchtete ähnliche Pläne Putins wie bei der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim. Spätestens seitdem steht das Land in Europa isoliert da.

Dieser Zustand ist allerdings mit Blick auf die jüngere Geschichte längst keine Selbstverständlichkeit. Mindestens bis 2011 bildeten deutsche Polizisten belarussische Sicherheitskräfte aus. Sicherheitskräfte des Diktatoren Lukaschenka. Sicherheitskräfte, die womöglich heute auf Demonstranten schießen. Sicherheitskräfte, die vielleicht heute Oppositionelle und Journalisten verhaften. Ja, das ist Spekulation – und dennoch aus heutiger Sicht eine Ungeheuerlichkeit.

Auch die EU verlor Belarus in den vergangenen Jahren zunehmend aus den Augen. Vor der Präsidentschaftswahl 2015 setzte man die Sanktionen gegen Präsident Lukaschenka aus. Während Themen wie die Flüchtlingskrise das Tagesgeschäft beherrschten, spielte die Situation in Belarus kaum eine Rolle. Hierzu brauchte es den Abend des 9. August 2020.

2020 – Schock oder Chance?

Die Präsidentschaftswahl 2020 stand unter anderen Vorzeichen als die vorherigen: Fünf der aussichtsreichsten Gegenkandidaten Lukaschenkas wurden nicht zur Wahl zugelassen beziehungsweise sogar verhaftet. Daraufhin kündigte Swjatlana Zichanouskaja, die bis dato noch nicht auf der politischen Bühne in Erscheinung getretene Ehefrau des inhaftierten Kandidaten Sjarhej Zichanouski, ihre Kandidatur als Präsidentin an. Die Ehefrauen anderer inhaftierter Kandidaten unterstützten sie, obwohl die belarussische Opposition zuvor stark zerstritten war. Zichanouskajas Wahlkampfveranstaltungen erfreuten sich großer Beliebtheit. Aufbruchstimmung machte sich breit.

Doch eine Wahl in Belarus ist keine Wahl in einer freiheitlichen Demokratie. Nachdem ihr Repressalien angedroht wurden, entschloss sich Zichanouskaja, ihre Familie ins Exil zu schicken. Nach Öffnung der Wahllokale stellten Wahlbeobachter unzählige Verstöße gegen essentielle demokratische Wahlgrundsätze fest. Letztendlich kam es, wie es kommen musste: Lukaschenka erklärte sich mit angeblich 80,08 Prozent der Stimmen zum Sieger. Zichanouskaja sah sich ihrerseits als Wahlsiegerin – ihr kurz nach der Wahl angelegtes Twitterprofil ziert der Titel „Leader of democratic Belarus“.

Selten lagen Hoffnung und Schrecken in Belarus so nah beieinander wie an jenem Abend des 9. August 2020. Im ganzen Land trieb es die Menschen auf die Straße – allein in Minsk etwa Hunderttausend. Lukaschenka veranlasste drastische Maßnahmen durch Polizei und Militär. Nicht nur auf der Straße. Auch das Internet wurde beschränkt, um die Organisation der Proteste zu behindern. VPNs, YouTube und diverse weitere Kanäle wurden gesperrt. Informationen waren nur noch über Telegram-Channel wie NEXTA Live oder über die wenigen Auslandskorrespondenten zu erhalten, die ihre Arbeit noch fortsetzen konnten, denn auch Journalisten wurden festgenommen. Auch Infrastruktur wurde heruntergefahren, der Minsker Metroverkehr eingestellt, die Straßenlaternen ausgeschaltet.

Doch die Proteste rissen nicht ab. Sie tun es bis heute nicht. Lukaschenka wurde auf seiner Siegestour durch die Industriebetriebe ausgebuht. In den staatlichen Betrieben wurde ein Generalstreik ausgerufen. Teilweise konnte der Staatsfunk mangels Personals nicht senden. Indes gingen die Menschen weiter auf die Straße. Friedlich. Polizisten und Soldaten wechselten teilweise die Seite. Besondere Aufmerksamkeit wurde den belarussischen Frauen zuteil, die mit Menschenketten und Blumensträußen in den Händen gegen das Lukaschenka-Regime protestierten.

Symbol der Proteste wurde die weiß-rot-weiße Flagge. Sie wurde zuerst 1917 von der belarussischen Unabhängigkeitsbewegung verwendet, doch nach der kommunistischen Revolution nur noch durch die Exilregierung in Polen geführt. Ein kurzes Revival erlebte sie ab 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion. 1995, ein Jahr nach Lukaschenkas Wahl zum Präsidenten, ließ er sie unter Verzicht auf Hammer und Sichel wieder durch die Flagge der früheren Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik ersetzen. Seither ist weiß-rot-weiß das Symbol der demokratischen Opposition. Man kann den Konflikt kaum besser herunterbrechen: Der Sowjet-Nostalgiker Lukaschenka gegen die Tradition der ersten Republik auf belarussischem Boden.

Exilpräsidentin

Swjatlana Zichanouskaja wurde vor und auch nach der Wahl zur Identifikationsfigur der demokratischen Opposition – aus dem Exil. Am Abend des Tages nach der Wahl löste ein Tweet des Außenministers des belarussischen Nachbarlandes Litauen, Linas Linkevičius, Besorgnis aus, der die belarussische Präsidentschaftskandidatin seit Stunden nicht erreichen konnte. Nicht einmal ihre Mitarbeiter kannten ihren Aufenthaltsort.

Glücklicherweise konnte Linkevičius am nächsten Morgen Entwarnung geben. Zichanouskaja war nach Litauen eingereist. Die Umstände ihrer Ausreise aus Belarus waren unklar. Während ihr Wahlkampfteam verlauten ließ, Zichanouskaja sei von den belarussischen Behörden nach Litauen gebracht worden, gab sie selbst an, freiwillig ausgereist zu sein – möglicherweise auf Druck der Behörden.

Heute unterstützt Zichanouskaja die Proteste im Land aus dem Exil. Sie sieht sich als rechtmäßige, demokratisch gewählte Präsidentin von Belarus. Sie ruft ihre Landsleute weiter zu friedlichen Protesten gegen Lukaschenka auf und organisiert Aktionen wie den Day of Solidarity with Belarus am 7. Februar 2021. Sie trifft Politiker, vernetzt sich, setzt sich für stärkeren Druck aus Europa auf Lukaschenkas Regime ein. Ein wichtiger Einsatz, denn Europa muss handeln.

Brüssel & Berlin?

Lukaschenkas „Wahlsieg“ löste in gewissen Staaten Freude aus – prompt gab es Glückwünsche aus Peking, Moskau, Caracas, Istanbul und Damaskus. Bezeichnend. Und ein weiteres Zeichen, dass Europa handeln musste. Die EU reagierte träge, aber sie reagierte – erst am 14. August 2020 wurden Sanktionen auf den Weg gebracht. Am 19. August folgte die Nichtanerkennung des Wahlergebnisses. Bis zu einer Einigung über die Sanktionen dauerte es bis Oktober. Zudem wurde Lukaschenka persönlich zunächst bis November aus diplomatischen Gründen davon ausgenommen. Trotzdem werden auch heute weiter Oppositionelle wegen ihres Einsatzes für Menschenrechte und Demokratie eingesperrt.

Dass die EU-Sanktionen überhaupt jemals ausgesetzt wurden, ist absurd genug. Man nahm damals eine Verbesserung der Menschenrechtslage in Belarus an. Eine katastrophale Fehleinschätzung, wie sich schon an dem Vorgehen gegen Demonstranten und Journalisten erkennen lässt. Ebenso daran, dass die Wahlbeobachter der OSZE nach der Präsidentschaftswahl 2015 verlauten ließen, vor Belarus liege noch ein beträchtlicher Weg hin zu demokratischen Wahlen.3 Wenig überraschend ist auch, dass Belarus auf der Rangliste der Pressefreiheit 2020 auf Platz 153 von 180 liegt.

Doch in Deutschland und Europa ist der Alltag eingekehrt. Nach ein paar Tagen, in denen die Lage in Belarus aufregend und beängstigend war und die Proteste die Schlagzeilen bestimmten, ist die Lage im Land heute nicht mehr als eine Fußnote der Außenpolitik. Stattdessen schließt die EU lieber ein Investitionsabkommen mit der Volksrepublik China. Ansonsten ist von einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wenig zu spüren.

Zwei Flugstunden

Währenddessen verübt Lukaschenka seine Verbrechen vor unserer Haustür, vor unseren Augen, keine zwei Flugstunden von Berlin entfernt. Die Erarbeitung eines europäischen und deutschen Magnitsky Act4 geht nur schleppend voran und ist umstritten. Dabei wird es Zeit, endlich zu handeln. Deutschland und Europa müssen sich immer wieder unmissverständlich gegen das belarussische Regime und hinter die Demonstranten stellen. Sanktionen müssen ausgeweitet, internationale Untersuchungen aller Verbrechen gegen Journalisten und Oppositionelle auf den Weg gebracht werden.

Lukaschenka muss den freiheitlichen Atem des Westens im Nacken spüren. So nah, dass das Exil schöner aussieht als die Macht. So nah, dass die Menschen in Belarus endlich die freien Wahlen und Menschenrechte bekommen, die ihnen zustehen. Freiheit zählt nicht nur vom Rhein bis zur Oder, sondern weltweit.

  1. Die außenpolitische Vertretung des Vatikan liegt beim Heiligen Stuhl, der seinerseits kein Mitglied internationaler Organisationen werden kann.[]
  2. Der völkerrechtliche Status des Kosovo ist umstritten. Es besteht jedoch ein Beobachterstatus beim Europarat durch Vertreter des kosovarischen Parlaments.[]
  3. Organisation for Security and Cooperation in Europe, Statement of Preliminary Findings and Conclusions zur Präsidentschaftswahl 2015 in Belarus, S. 1.[]
  4. Sanktionsgesetz gegen Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen nach US-amerikanischem Vorbild, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Magnitsky_Act.[]

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